Politikwissenschaftler zur Brexit-Diskussion

Geradewegs in die Katastrophe?

Der Brexit-Entwurf ist ausgehandelt. Aber ob Premierministerin Theresa May ihn durch das Parlament bekommt, ist fraglich. "Eine vertrackte Situation" sagt der Politikwissenschaftler Stefan Schieren und spricht von Fehlern auf beiden Seiten.

Nebulös: Wie geht es in Großbritannien nach dem Brexit weiter? / © Friso Gentsch (dpa)
Nebulös: Wie geht es in Großbritannien nach dem Brexit weiter? / © Friso Gentsch ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was ist denn der größte Kritikpunkt am Vertragsentwurf über den Austritt Großbritanniens aus der EU?

Stefan Schieren (Politikwissenschaftler und Dozent an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt): Die Vertreter eines souveränen Großbritannien haben vor allem zwei Kritikpunkte. Sie befürchten, dass diese halbe Mitgliedschaft letztendlich die ursprünglich gesetzte Zielsetzung - nämlich wieder komplett souverän Politik betreiben zu können, ohne Einflussnahme aus Europa und ohne sich dem Europäischen Gerichtshof unterwerfen zu müssen - mit den Vereinbarungen nicht erreicht wird.

Der zweite, noch wesentlicher Kritikpunkt ist, dass es eine unterschiedliche Rechtsstellung Nordirlands in der langen und mittleren Frist geben wird, bezüglich der Zugehörigkeit entweder zur Zollunion oder zum Vereinigten Königreich. Und hier befürchten die nordirischen Nationalisten, dass eine stärkere Zugehörigkeit zur Zollunion Europas möglicherweise die Abspaltung Nordirlands vom Königreich und die Vereinigung mit Irland zur Folge haben würde. Und das lehnen die irischen Nationalisten kategorisch ab.

DOMRADIO.DE: Gestern hat es ja schon ein Misstrauensvotum gegen Premierministerin May gegeben. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass sie sich halten kann?

Schieren: Die Chancen schätze ich eigentlich stündlich weniger gut ein. Es wird ein bisschen davon abhängen, wie groß die Gruppe derer sein wird, die sich für das Misstrauensvotum in der konservativen Fraktion aussprechen werden. Nach allgemeiner Einschätzung wird sie ein Misstrauensvotum in der Fraktion zwar überstehen. Aber wenn der Rückhalt so stark gesunken ist, dass sie gar keine Aussicht hat, im Parlament Mehrheiten zu finden, wird sie wohl doch den Schritt gehen müssen, zurückzutreten. Es gibt Schätzungen, dass zwischen 60 und 80 konservative Abgeordnete ihr die Gefolgschaft aufkündigen werden. Und damit halte ich eine Mehrheit im Parlament für illusorisch.

DOMRADIO.DE: Gäbe es denn einen aussichtsreichen Kandidaten oder eine Kandidatin für die Nachfolge?

Schieren: Mir wäre keiner bekannt, den ich jetzt sofort als möglichen Nachfolgekandidaten sehen würde. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass es zu einer Neuwahl kommen würde. Und diese Neuwahl würde in Europa sicherlich auch einiges durcheinanderwirbeln, weil dann der Zeitplan 29. März nicht einzuhalten sein wird. Um wirklich sehr erhebliche Folgen dieses Vorgangs für Großbritannien und auch die Europäische Union zu verhindern, wäre es aus meiner Sicht der beste Schritt, dass man einfach eine Fristverlängerung vereinbart. Das lassen die Verträge auch zu.

DOMRADIO.DE: Es gibt auch zumindest in Europa viele, die denken: Vielleicht gibt es ja doch noch ein neues Referendum und Großbritannien bleibt in der EU. Was halten Sie denn von diesem Wunsch?

Schieren: Der Wunsch ist verständlich, aber ich bin skeptisch, was die Aussichten eines zweiten Referendums angeht. Erstens müsste das ja durch ein Parlamentsgesetz so beschlossen werden. Und es müsste in einem Gesetz auch die Frage für ein Referendum formuliert werden. Und da ist natürlich offen: Wie soll diese Frage aussehen? Soll man die britischen Wähler vor die Alternative stellen; wählt jetzt dieses Papier oder den harten Brexit. Das ist eine Möglichkeit, würde aber in der Situation überhaupt nicht weiterhelfen.

Die zweite Möglichkeit - das, was die Referendums-Befürworter eigentlich möchten - ist, dass man die Wahl gibt zwischen "Brexit" und "kein Brexit". Hier muss man wiederum die europäischen Verträge beachten. Die sagen eindeutig in Artikel 50: Wenn ein Mitgliedsland beschließt, austreten zu wollen, gibt es diese Absicht kund. Das heißt: Es gibt Europarechtler, die auf dem Standpunkt stehen: Der Austritt ist schon beschlossen und nur das Verfahren des Austritts wird verhandelt. Da gibt es auch in den europäischen Verträgen keinen Weg zurück, zu sagen: Jetzt haben wir zwei Jahre verhandelt. Das Ergebnis gefällt uns nicht. Jetzt machen wir praktisch den Exit vom Brexit.

Es ist also nicht geklärt, ob überhaupt diese rechtliche Möglichkeit besteht. Wie man sich politisch nachher entscheidet, ist eine ganz andere Frage. Aber es gibt durchaus rechtliche Hürden, die der Vertrag einem Exit vom Brexit auch gegenüberstellt. Insofern ist auch dieser Ausweg nicht ganz so leicht zu gehen wie es scheint. Ich halte es auch für schwer möglich, dass in der jetzigen Situation im Parlament eine Einigkeit auf eine Frage und damit auf ein zweites Referendum erreicht werden kann. Ich halte dann Neuwahlen für wahrscheinlicher.

DOMRADIO.DE: Als Laie kommt man in diesem ganzen Hin und Her gar nicht mehr mit. Sagen Sie als Fachmann auch: Das ist ein Wahnsinn, was da läuft. Oder ist das vielleicht auch eine Chance, sich in Europa politisch ganz neu zu sortieren?

Schieren: Jetzt ist es nur noch ein Wahnsinn. Die Möglichkeit, eine Chance darin zu sehen, ist aus meiner Sicht vertan. Der erste Fehler ist gewesen, das Referendum überhaupt durchzuführen, zweitens mit dieser konkreten Fragestellung. Und das Dritte ist, dass Europa durch die Finanzkrise 2008 und andere Entwicklungen eine ziemlich geringe Neigung hatte, den Briten ein gewisses Entgegenkommen zu zeigen. Es gab die Befürchtung, dass, wenn man den Briten zuviel gewährt, Europa nur noch als Selbstbedienungsladen für die besten Lösungen angesehen wird und damit der Zusammenhalt Europas gefährdet ist.

Ich meine, dass man den Briten gegenüber auch etwas mehr Entgegenkommen und Flexibilität hätte zeigen sollen. Vor zehn Jahren wäre das wahrscheinlich auch noch als Möglichkeit angesehen worden. Aber jetzt ist von beiden Partnern sehr hart verhandelt worden, aus Angst, zu früh zu viel preiszugeben. So habe ich manchmal den Eindruck, man läuft genau in die Katastrophe hinein, die man eigentlich unter allen Umständen vermeiden wollte. Und insfern sehe ich keine gute Chance, sondern eine ziemlich vertrackte Situation.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Die britische Premierministerin Theresa May spricht zu Journalisten. / © Andrew Matthews (dpa)
Die britische Premierministerin Theresa May spricht zu Journalisten. / © Andrew Matthews ( dpa )
Quelle:
DR