Menschenrechtler verurteilt türkischen Angriff auf Kurden

"Blindwütige Verfolgung"

Türkische Kampfjets haben in dieser Woche kurdische Stellungen im Nordirak und in Nordsyrien angegriffen. Doch wem galt die Attacke wirklich? Der Menschenrechtler Martin Lessenthin erhebt bei domradio.de Vorwürfe Richtung Ankara.

Erdogan-Anhänger mit Militärgruß / © Sedat Suna (dpa)
Erdogan-Anhänger mit Militärgruß / © Sedat Suna ( dpa )

domradio.de: Sie haben Kontakt zu einem deutschen Ärzteehepaar, das in der Krankenstation tätig gewesen ist, von der nur ein paar Meter entfernt in dieser Woche die Angriffe stattgefunden haben. Was erzählen die Ihnen?

Martin Lessenthin (Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte): Wenige Stunden nachdem sie die Medizinstation verlassen hatten, erfolgte dieser Militärschlag. Er hat sehr viel zerstört, teilweise auch die Medizinstation selbst. Es ist ein Zeichen dafür, dass hier blindwütig verfolgt wird, was der türkische Staat in Person von Recep Tayyip Erdogan verfolgen möchte. Und es sieht so aus, als ob das Ganze nach dem Motto geschieht: "Nur ein toter Kurde ist ein guter Kurde."

Martin Lessenthin / © Internationale Gesellschaft für Menschenrechte / IGFM
Martin Lessenthin / © Internationale Gesellschaft für Menschenrechte / IGFM

domradio.de: Die Luftschläge richten sich nicht nur gegen die Kurden, sondern auch gegen den sogenannten Islamischen Staat. Kann man hier herausfinden, welche Rolle die einzelnen Parteien in diesem Konflikt spielen?

Lessenthin: An dieser Stelle, wo der Militärschlag erfolgt ist, gab es keine Einheiten des Islamischen Staates. Die Menschen, die hier verfolgt werden - nicht nur auf türkischem Boden - sind Kurden, in diesem konkreten Fall Kurden jesidischen Glaubens. Es gibt alevitische, sunnitische oder auch die angesprochenen jesidischen Kurden.

Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie eine kulturelle Identität besitzen, die sich von der Identität, die der türkische Staat wünscht, unterscheidet. Da Kurden zudem mit Terror und PKK gleichgesetzt werden, nimmt sich Herr Erdogan raus, auch Militärschläge im Irak zu unternehmen. Dies allerdings nicht gegenüber dem IS, sondern gegen diejenigen, die den IS am erfolgreichsten bekämpfen, nämlich die Kurden.

domradio.de: Jetzt können wir das Vorgehen als deutscher Staat und Europa jedoch nicht einfach verurteilen, weil die Türkei auf der anderen Seite auch Partner in der NATO ist. Was hat das also für eine politische Dimension? Wie sollten wir uns verhalten?

Lessenthin: Die NATO- Mitgliedschaft der Türkei hat zwei Medaillen. Zum einen ist die Türkei schon lange Teil der NATO und galt meistens als wichtiger Partner. Die Türkei unter Erdogan, der nach dem gewonnenen Referendum in etwa den Status eines Sultans mit umfassenden Vollmachten besitzt, ist ein Staat, der außerhalb der Landesgrenzen Menschen verfolgt.

Auf der einen Seite ist ein Kennzeichen für diese Politik die Unterstützung dschihadistischer Gruppen, die dem IS ähneln oder deren  Vorläufer bildeten. Auf der anderen Seite steht der Kampf gegen jegliche Art von Kurden. Um diesen zu schaden, macht aus Sicht von Erdogan auch Sinn, dschihadistische Gruppen, die durch Kurden bekämpft werden, zu stärken.

domradio.de: Sollte die Nato also ihr Bündnis mit der Türkei überdenken?

Lessenthin: Zumindest wär die NATO gut beraten, wenn sie so auf das Handeln von Erdogan Einfluss nimmt, dass nicht die Bündnispartner des Westens, die Gegner des IS, durch die Türkei als NATO-Mitglied ausgelöscht werden.

domradio.de: Welche Rolle nehmen wir und die deutsche Regierung dann als Waffenlieferant der Kurden und Peschmerga ein? 

Lessenthin: Deutschland versucht seinen Beitrag zu leisten, um den Islamischen Staat zu bekämpfen. Die deutsche Regierung hat nicht das Ziel, die Kurden zu vernichten, worin sich natürlich auch die deutschen Interessen von den Erdogans unterscheiden.

domradio.de: Welche Rolle spielen dann eigentlich die Christen in der Region und in der ganzen Auseinandersetzung?

Lessenthin: Die Christen sind Opfer zwischen den Fronten. Es gibt viele gemeinsame Interessen, die die Christen mit den Kurden in dieser Region teilen. Sie gehören zu den Minderheiten und denjenigen, deren Existenzberechtigung vom Islamischen Staat bestritten wird.

Außerdem führen die Christen in all diesen Ländern, genauso wie in der Türkei, ein schweres Leben. Beispielsweise haben die in der Türkei lebenden Aramäer bis heute unter Erdogan ein Problem, ihre Sprache in der Lehre weiterzugeben. Folglich ist es auch nicht verwunderlich, dass die Minderheitenpartei in der Türkei, die HDP, die sowohl Kurden als auch christliche Minderheiten unterstützt, von Erdogan auf das Schärfste bekämpft wird.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Jesiden

Jesiden sind eine religiöse Minderheit unter den Kurden. Weltweit hat die monotheistische Religionsgemeinschaft mehrere hunderttausend Mitglieder. Erstmals erwähnt werden die Jesiden in nahöstlichen Quellen aus dem 12. Jahrhundert. Ihr Name geht vermutlich auf den frühislamischen Kalifen Yazid I. ibn Muawiya (680-683) zurück.

Irak, Lalish: Eine Frau entzündet ein Feuer im Shekadi-Schrein während der Feierlichkeiten des Sommer-Arbaeen-Eids / © Ismael Adnan (dpa)
Irak, Lalish: Eine Frau entzündet ein Feuer im Shekadi-Schrein während der Feierlichkeiten des Sommer-Arbaeen-Eids / © Ismael Adnan ( dpa )
Quelle:
DR