Predigt von Pater Bernhard Venzke OP am 18.9.1989

"Die Mauersteine sind überwindbar geworden"

Predigt von Pater Bernhard Venzke OP in der Leipziger Nikolaikirche am 18.9.1989 über die anstehende friedliche Revolution und den möglichen Mauerfall. Venzke nimmt Bezug auf die Textstelle Josua 6,1 - 21 - Die Mauern von Jericho.

P. Bernhard Venzke OP / © privat
P. Bernhard Venzke OP / © privat

Also, liebe Schwestern und Brüder, dann schnappen wir uns doch Posaunen und blasen einfach alle Mauern weg!

Die Geschichte so zu sehen, wäre ziemlich einfältig und dumm und der Erfolg ließe ziemlich lange auf sich warten. Hier kommt ein Gesetz - eigentlich aus der Physik - zur Geltung; das Gesetz der Resonanz. Ignorieren wir dieses Gesetz und einige wichtige Aspekte, würden wir wohl auch Mauern zerstören, die uns stören - es ginge aber auch weitaus mehr kaputt...

So ist zum Beispiel nicht jede Mauer von Übel, wie hier, die Mauern der Nikolaikirche, die uns Schutz und Sicherheit bieten und somit gut sind. Doch wir kennen auch Mauern, die unerträglich sind. Und diese Unerträglichkeit scheint mir zwei Gründe zu haben:

Ein Grund unerträglicher Mauern sind die Argumente für sie oder aber die Verweigerung einer fairen Auseinandersetzung darüber. Damit verlassen wir auch schon den Bereich der nur sichtbaren Mauern. Auch im menschlichen Miteinander ist es unerträglich, wenn jemand blockt, "mauert" und die wahren Gründe dafür nicht nennt.

Ich bin durch eigene Erfahrungen darauf gestoßen, was an menschlichen Mauern auch noch unerträglich ist.

Zum einen ist es die Unterstellung, man sei so dumm und so einfältig wie die Scheinargumente für die Mauern selbst; zum anderen verletzt jede Verweigerung von Dialog die menschliche Würde - und noch mehr bei bestimmten Mauern.

Der zweite Grund der Unerträglichkeit von Mauern scheint weitaus häufiger zu gelten, als wir glauben:

Hier kommt wieder dieses - eigenartig umgewandelte, aber im Prinzip stimmige - Gesetz der Resonanz zur Geltung. Wenn wir es aus der Physik in den menschlichen Bereich übernähmen, würde es wie folgt etwa lauten: Eine Sache von außen macht mich deswegen so an, weil sie etwas Entsprechendes in mir anspricht, also Resonanz in mir findet.

Und so ist es ein Gebot der Wahrhaftigkeit, dass wir uns selbst fragen, was da in mir angesprochen wird. Für unser spezielles Thema heute hieße das, ich muss mich auch mit meinen eigenen Mauern auseinandersetzen, die ich so zu meinem Schutz nach innen und außen aufgerichtet habe. Diese Auseinandersetzung macht natürlich auch Angst.

Angst deshalb, weil sie dazu führen kann, Dinge über mich selbst zu erfahren, die ich lieber nicht nennen kann oder wahrhaben will. Und Angst haben wir doch heute alle, hier in der Kirche an diesem Tag – auch ich habe Angst. Es ist die Angst vor dem Unberechenbaren, was uns die Mauern bergen, uns in ihnen begegnet, bestehen diese Mauern äußerlich nun aus Steinen oder Menschen. Diese Angst nicht zu haben, ist entweder Ignoranz oder Arroganz, ihr zu entfliehen – wie ich es lange, bis heute – selbst getan habe, ist Feigheit.

Liebe Schwestern und Brüder! Ich bin aus Feigheit und Angst bisher nicht zu den Friedensgebeten gekommen - das ist meine Schuld!

Aber es gibt einen Ausweg, den wir in der Geschichte von Jerichow ablesen können:

Als erstes ist es das Gespräch mit Gott.

Ich weiß, jetzt werden einige von Euch denken: Ah, jetzt kommt die fromme Soße - NEIN! - Denn die Botschaft der Heiligen Schriften, das Zeugnis vieler Tausend Glaubenden und die Begegnung mit echten Christen ließ mich erfahren: Im Gespräch mit Gott kann ich erfahren, dass er mich liebt, wie ich bin. Darum kann ich mich auch angstbeladenen Situationen aussetzen, um etwas über mich selbst zu erfahren – angesichts beispielsweise der Mauern, die sich nun draußen wieder bilden (Polizeiketten, Zuschauer usw.) Als Christ sollte einem dieses nicht schwer fallen - tut es aber, dieses Zutrauen zu sich selbst ist aber untergraben worden - ja auch gelegentlich durch die Kirchen selber.

Erst wenn ich die Entsprechungen äußerer Mauern oder Dinge in mir anzunehmen bereit bin, kann ich sie überwinden. Dann erst finde ich - um im Bild zu bleiben - den Ton für meine Posaune! Und es kann sein, dass ich erkenne, dass sie nicht das Hörn sein muss, in das alle blase - oder tröten müssen. Und - was das Ergebnis dieser Aktion angeht, da stimmt das Bild auch wieder.

Die Mauern von Jericho - zumindest ihre Steine - sind ja geblieben. Aber sie sind überwindbar geworden. Es ist einfach kindisch, zu glauben, dass wir Mauern so beseitigen können, dass sie einfach weg sind.

Nun, die Mauersteine sind geblieben - wenn auch überwindbar geworden – uns bleibt jetzt, mit ihnen selbstbewußt umzugehen.

(Pater Bernhard Venzke OP)