Wolfgang Thierse erinnert sich an die Wende-Zeit vor 25 Jahren

"Unsere Nation muss auch eine Erinnerungsgemeinschaft sein"

Wolfgang Thierse, ehemaliger Bundestagspräsident und Mitglied des ZdK, hat die Wende-Zeit 1989 als DDR-Bürger hautnah miterlebt. Im domradio.de-Interview erzählt er, wie er diesen Höhepunkt deutscher Geschichte erlebt hat.

Wolfgang Thierse (dpa)
Wolfgang Thierse / ( dpa )

domradio.de: Für mich sind Sie ein Stück deutscher Geschichte. Sehen Sie das auch so?

Thierse: Ich lebe doch noch, ich bin noch nicht Teil der Geschichte geworden.

domradio.de: Ich meine ja nicht nur Ihre Funktion als Bundestagspräsident, sondern auch Ihr Wirken in Zeiten des Umbruchs 89/90, an das wir jetzt erinnern. Was haben Sie gemacht als die Mauer fiel?

Thierse: Die Frage habe ich schon so oft beantwortet. Nichts besonderes hab ich gemacht. Wir saßen zu Hause, meine Frau und ich, und haben Westfernsehen gesehen. Dann kam diese Meldung über die Pressekonferenz mit dem SED-Bezirksparteichef Schabowski und diesen etwas undeutlichen Äußerungen, dass man jetzt auch in den Westen reisen könne, ohne Vorliegen besonderer Gründe. Wir haben das nicht richtig verstanden, wir haben das nicht geglaubt, was meint der da? Das ist doch wahrscheinlich wieder irgendein lügnerischer Trick. Erst im Laufe des weiteren Abends, als Bilder vom Grenzübergang Bornholmer Straße, nicht weit weg von uns, auch in Berlin Prenzlauer Berg, zu sehen waren. Menschen standen davor und drückten in den Westen. Da haben wir es geglaubt, aber sind nicht sofort losgerast, sondern haben gedacht, wenn das wirklich alles stimmt, wollen wir das zusammen mit unseren Kindern erleben. Die lagen schon im Bett, die waren ja noch viel kleiner. Wir sind dann zum ersten Mal zusammen als Familie nach Westberlin gekommen. Das war ein wunderbares Erlebnis. Wir wurden von wildfremden Menschen umarmt, mit Sekt begrüßt - es war so eine außerordentlich schöne Stimmung in der Stadt, wie sie vielleicht unwiederholbar ist. Walter Momper (damals Regierender Bürgermeister von West-Berlin, Anm. der Red.) hat das damals in den richtigen Satz gekleidet: "Wir Berliner sind jetzt die glücklichsten Menschen der ganzen Welt".

domradio.de: Wollten Sie danach wieder zurück, nach Ihrem West-Besuch?

Thierse: Aber natürlich. Wir haben ja in der DDR gelebt und wir sind da geblieben mit einer Mischung aus Treue und Trotz und Angst und Unsicherheit und Liebe. Nein, wir wollten ja dieses Land, in dem wir nun mal gelebt haben durch einen biographischen Zufall, ändern. Wir wollten nicht abhauen wie viele Andere - was ich nicht kritisiere. Man hat ja alle verstanden, die weggelaufen sind. Aber wir haben gesagt, es können doch nicht alle anständigen und intelligenten und fleißigen Leute abhauen. Es müssen doch auch solche hierbleiben in der DDR, um das Land zu verändern und menschengemäß zu machen und für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit zu sorgen. Das war die Sehnsucht, das war der Inhalt der friedlichen Revolution 1989.

domradio.de: Hätten Sie sich auch vorstellen können, dass die DDR noch ein bisschen weiter existiert - unter demokratischen Bedingungen.

Thierse: Es war doch im Herbst `89 bis Anfang 1990 unklar, in welche Richtung die Entwicklung gehen wird, wie schnell die staatliche Vereinigung möglich sein wird. Damals haben ja alle, wir im Osten, aber auch die Politiker im Westen gedacht, Schritt für Schritt muss es vorangehen. Vielleicht dauert es ein, zwei, drei, vier Jahre. Dass dann alles viel schneller ging, war die Dramatik der Geschichte. Das hat mit dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zu tun, es hat mit der Ungeduld der Ostdeutschen zu tun, es hat mit der außenpolitischen Unsicherheit zu tun: wie lange wird Gorbatschow sein Ja zur deutschen Einheit durchhalten. Das war die Beschleunigung der Geschichte. Das konnte keiner vorhersehen. Wer das hinterher behauptet, der lügt schlichtweg.

(...)

domradio.de: Wie halten wir denn diese spannende deutsche Geschichte, die Öffnung der Mauer, in den kommenden Jahren auch für zukünftige Generationen wach, die das nicht miterlebt haben?

Thierse: So wie das in anderen Fällen auch geht. Man muss Geschichten erzählen, es muss Gegenstand der politischen Bildung, des Geschichtsunterrichts sein. Es wird immer wieder hoffentlich gute, spannende, historisch richtige Filme, Fernsehbeiträge geben, Bücher...Ich glaube ja, dass soziale Gemeinsamkeit nicht nur entsteht durch den Markt und durch den Arbeitsprozess und durch Recht und Gesetz, sondern auch dadurch, dass wir Momente, Elemente gemeinsamen Erinnerns haben. Eine Nation, eine soziale Gemeinschaft muss vernünftigerweise auch eine Erinnerungsgemeinschaft sein, sonst geht Manches schief.

Das Gespräch führte Bernd Knopp. Das Interview in ganzer Länge ist als Audio-Datei diesem Artikel angehängt.


Quelle:
DR