DDR-Bürgerrechtlerin Birthler über den Mauerfall vor 25 Jahren

"Wer so etwas erlebt hat, wirft keinen Stein!"

Rund 25 Jahre nach dem Mauerfall blickt die DDR-Bürgerrechtlerin und ehemalige Stasi-Unterlagenbeauftragte, Marianne Birthler, dankbar auf die Ereignisse zurück. Ein Interview.

Marianne Birthler (KNA)
Marianne Birthler / ( KNA )

KNA: Frau Birthler, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die Vorfälle um den 9. November 1989 zurückdenken?

Birthler: Die Ereignisse von damals sind mir sehr gegenwärtig, gerade vor dem Hintergrund dessen, was sich gegenwärtig in der Ukraine abspielt. Ich empfinde eine große Dankbarkeit dafür, dass wir eine Diktatur hinter uns gelassen haben, ohne dass es Menschenleben gekostet hat.

KNA: Welche Rolle spielte es, dass die Demonstranten sich zu Friedensgebeten in den Kirchen trafen?

Birthler: Die Kirchen boten die einzige Möglichkeit, sich mit so vielen Menschen legal zu treffen. Und viele evangelische Gemeinden haben uns damals diesen Raum zur Verfügung gestellt. Da gingen dann Formen von politischen Versammlungen und Andachten ineinander über. Ich glaube aber auch, dass die spirituelle Atmosphäre eine große Rolle spielte: Viele Leute kamen aus politischen Gründen in die Kirche. Dann standen sie aber doch da und hielten sich an den Händen und sangen "Dona nobis pacem" ("Gib uns Frieden"). Wer so was erlebt, diesen Gesang, eine Predigt und diese Ruhe in einer Kirche, hebt hinterher keinen Stein auf der Straße auf.

KNA: Nach der friedlichen Revolution und der politischen Wende schien dann für viele Bürgerrechtler der Schritt in die Politik folgerichtig...

Birthler: Ja, es war für uns eine Frage der Verantwortung - bei vielen auch einer christlicher Verantwortung - sich weiterhin zu engagieren, eine Gesellschaft wieder aufzubauen, Diktaturfolgen zu bearbeiten. Sicher spielte auch eine Rolle, dass in der DDR viele Menschen einen kirchlichen Beruf ergriffen, die unter anderen Bedingungen vielleicht Politologen, Soziologen, Juristen oder Pädagogen geworden wären, dazu aber keine Möglichkeit hatten oder Konflikte mit der staatlichen Ideologie scheuten. Für sie eröffneten sich nach 1990 ganz neue berufliche Perspektiven.

KNA: Sie haben von 2000 bis 2011 die Stasi-Unterlagenbehörde geleitet. Nach der Wende wurde das Ausmaß an Stasi-Mitarbeitern bekannt. Wie beurteilen Sie die Bemühungen der Kirchen, zur Versöhnung von Tätern und Opfern beizutragen, wie es etwa die evangelische mitteldeutsche Landesbischöfin Ilse Junkermann versucht.

Birthler: Versöhnung ist etwas Wunderbares - aber Christen wissen, dass dafür zunächst einmal alle Karten auf den Tisch gelegt werden müssen. Diese Offenlegung - von mir aus auch die Beichte oder das Bekenntnis - ist Grundlage für ein mögliches Verzeihen. Versöhnung selbst ist ein Geschenk, darüber können wir nicht nach Belieben verfügen. Die Kirchen können aber helfen, Voraussetzungen für eine Versöhnung zu schaffen. Dazu gehört es meiner Ansicht nach auch, denen Raum zu geben, die Unrecht erlitten haben. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass es den meisten Opfern um eine öffentliche Anerkennung ihres erlittenen Unrechts geht.

KNA: 25 Jahre nach der friedlichen Revolution werden Rufe nach einer Schließung der Stasi-Unterlagenbehörde lauter?

Birthler: Für mich gibt es kein stichhaltiges Argument für eine Schließung der Behörde. Es wird noch auf lange Zeit Menschen geben, die die Akten brauchen, um ihr eigenes Leben oder das ihrer Eltern und Großeltern zu erhellen. Zudem gibt es nach wie vor einen großen Lernbedarf zum Thema DDR, auch dafür sind die Stasi-Akten unverzichtbar, sie geben ja Auskunft über Bereiche des Lebens im SED-Staat.

Hinzu kommt, dass die Behörde auch international inzwischen zu einem Symbol geworden ist. In anderen Ländern, die Diktaturen überwunden haben, müssen jene Menschen, die sich für die Aufarbeitung einsetzen, oft gegen schwere Widerstände ankämpfen. Für sie ist der Blick nach Deutschland von großer Bedeutung, er stärkt ihnen den Rücken. Auch auf die Stasi-Unterlagenbehörde wird immer wieder verwiesen.

Nachdenken sollte man aber sicher darüber, ob die Behörde neue Schwerpunkte setzen sollte. So könnte es eine stärkere Verschränkung der Informationen über die Staatssicherheit und die SED auf der einen Seite und den geleisteten Widerstand auf der anderen Seite geben. Dies könnte dann auch mit einer Strukturveränderung einhergehen.

KNA: Ein wichtiges Projekt für einige Teilnehmer der friedlichen Revolution Beteiligte war es, ein Unterrichtsfach einzuführen, in dem alle Schüler über Werte diskutieren. In Brandenburg haben Sie schließlich als Bildungsministerin Anfang der 1990 Jahre Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, kurz: LER eingeführt. Sind Sie zufrieden, wie sich das Fach etabliert hat?

Birthler: Ich bin sehr froh, dass es ein Fach für alle Kinder gibt, in dem Wertefragen behandelt werden und in dem es um das Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen, Religionen, Herkünfte geht. Nach wie vor tut es mir sehr leid, dass sich die beiden großen Kirchen nicht an dem Fach beteiligen wollten und weiter nur ihren eigenen Religionsunterricht anbieten.

Die Idee für das Fach LER war ja ursprünglich entstanden, damit auch nicht-christliche Schülerinnen und Schülern erfahren, was Glauben bedeutet. Ich glaube, dass das Unterrichtsfach mit einer Beteiligung der Kirchen, vielleicht auch der Jüdischen Gemeinde, gewonnen hätte.

Das Interview führte Birgit Wilke.