Kardinal Reinhard Marx zur Europawahl am 25. Mai

"Die EU ist für kein Land eine Bedrohung"

Kardinal Reinhard Marx ist nicht nur Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, sondern seit 2012 Präsident der Kommission der EU-Bischofskommission COMECE. Im Interview regt Marx an, die katholische Präsenz in Brüssel zu stärken.

 

Reinhard Kardinal Marx (dpa)
Reinhard Kardinal Marx / ( dpa )

KNA: Herr Kardinal, Prognosen sagen für die Europawahlen eine niedrige Wahlbeteiligung voraus und ein Erstarken nationalistischer Parteien. Macht Ihnen das Sorgen?

Marx: Wahlbeteiligung ist natürlich wichtig, aber sie ist nicht der einzige Gradmesser für die Lebendigkeit einer Demokratie. Trotzdem würde ich mich freuen, wenn viele Europäer begreifen, dass das EU-Parlament stark an Bedeutung gewonnen hat - und sie deswegen auch zur Wahl gehen. Und ich wünsche mir, dass viele Kandidaten gewählt werden, denen Europa ein Anliegen ist; die nicht mit nationalistischen Schablonen antreten, sondern mit der Überzeugung, dass das europäische Gemeinwesen bei aller berechtigten Kritik ein lohnendes Projekt ist.

KNA: Zu den wichtigsten Themen der nächsten Wahlperiode zählt das geplante Freihandelsabkommen mit Nordamerika. Wie stehen Sie dazu?

Marx: Ich habe darüber schon mit Experten in Brüssel und mit US-Bischöfen gesprochen. Derzeit kennen wir den Stand der Verhandlungen nicht; doch Transparenz ist wichtig. Für uns ist entscheidend: Dient dieses Projekt den Armen oder nur den Reichen? Es darf nicht sein, dass sich die Wohlstandsgebiete Europa und Nordamerika von den ärmeren Ländern abschotten. Der Westen steht in der Verantwortung für einen auch ethisch begründeten Rahmen für den Welthandel. Wenn es gelänge, dafür Standards zu setzen bei Menschenrechten, Teilhabemöglichkeiten und Fairness, wäre das ein Fortschritt. Diese Chance sollten wir nutzen.

KNA: Bei der Eurokrise scheint das Schlimmste überstanden. Es gibt Erholungssignale in Griechenland, Portugal und Irland. War der harte, von Brüssel und Berlin vorgegebene Sparkurs doch richtig, obwohl er von sozialen Spannungen begleitet war?

Marx: Ich glaube nicht, dass die Staatsschuldenkrise schon zu Ende ist. Es wird noch Jahre dauern, bis manche Illusionen endgültig geplatzt sind, etwa die, man könne am Wohlstand teilhaben, ohne sich dem internationalen Wettbewerb stellen zu müssen. Viele, auch Politiker, haben diese Illusion genährt. Man meinte, es genüge, billiges Geld zu leihen und auf selbstverständliches Wachstum zu setzen, also Schulden zu machen ohne notwendige Anpassungen vorzunehmen. Und die Banken haben das ja mit befördert.

Die Aufgabe, verschiedene gewachsene Kulturen und Arbeitswelten anzupassen, ist und bleibt riesig, aber ein gemeinsamer Währungsraum zwingt dazu. Diese Entscheidung wurde getroffen, da gibt es wohl kaum einen Weg zurück, aber Europa sollte sich vom Modell einer sozialen Marktwirtschaft leiten lassen, wie wir es auch als Bischöfe Europas gefordert haben. Kapitalverwertungsinteressen und damit die Logik des Kapitals dürfen nicht alle Lebensbereiche beherrschen. Das ist durchaus nicht unmöglich und unvernünftig.

KNA: In der Ukraine droht Krieg. Und die russische Regierung sieht die Osterweiterung der EU als eine Ursache der Krise.

Marx: Die Europäische Union wird von keinem Land der Welt als Bedrohung empfunden. Das möchte ich schon behaupten. Sie hat ja keine militärische Macht. Anders mag es sich mit Bündnissen wie der NATO verhalten. Darüber will ich nicht spekulieren. Der Begriff Osterweiterung scheint mir bei der EU nicht ganz treffend. Dabei handelte es sich nicht um eine Expansion. Sie war Ausdruck des freien Willens dieser Völker, sich der EU anzuschließen.

KNA: Wieso interessiert sich die Kirche überhaupt für die EU?

Marx: Die Päpste haben früh erkannt, dass Europa eine stärkere politische Einheit braucht. Denken Sie an die Friedensbotschaften von Benedikt XV. im Ersten Weltkrieg. Die Bischöfe der kriegführenden Länder waren damals noch ganz in nationalem Denken gefangen. Wenn Sie deren Predigten heute lesen, stockt Ihnen der Atem. Pius XII. hat dann schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg die Einheit der Völker Europas befördert. Und dann ist vieles gewachsen, in Begegnungen, Partnerschaften, in politischen und wirtschaftlichen Vereinbarungen, nicht zuletzt auch in gemeinsamen Festen und religiösen Feiern - Gott sei Dank!

KNA: Aber EU und Europa sind nicht dasselbe.

Marx: Natürlich nicht. Aber Europa hat mit der EU einen politischen Kern gefunden. Zum ersten Mal hat sich in freier Entscheidung der Völker ein übernationales Gemeinwesen gebildet, in dem Länder gemeinsame Ziele verfolgen: Wohlstand für alle, Menschenrechte, Frieden. Und unabhängig davon, wie viele Christen es heute in Europa gibt, steht für mich fest: Ohne die Botschaft Jesu wäre diese Entwicklung nicht denkbar gewesen. Aus dem Evangelium und aus dem Erbe der Antike sind die Menschenrechte erwachsen. Wenn einige das bewusst verschweigen, finde ich das abwegig. Zur Geschichte Europas gehört das Evangelium als vielleicht wichtigster Aufklärungstext dazu.

KNA: Ist die katholische Kirche richtig aufgestellt, um sich in Europa Gehör zu verschaffen?

Marx: Ich bemühe mich als Präsident der COMECE darum, dass die katholische Kirche in bestimmter Hinsicht europäischer wird - vielstimmiger in den Sprachen, aber einheitlicher im Zeugnis. Jeder von uns ist mit seinem Volk verbunden, aber als Kirche sind wir nicht auf die Nation beschränkt. Papst Johannes Paul II. hat mich mit seinem großen nachsynodalen Text "Ecclesia in Europa" inspiriert. Ich durfte ja selbst als Weihbischof an der Europasynode 1999 teilnehmen. Er hat formuliert: "Wenn man 'Europa' sagt, soll das 'Öffnung' heißen." Dieser Papst wollte, dass die Kirche ein europäisches Bewusstsein entwickelt.

KNA: Wie kann das geschehen?

Marx: Wir müssen in Brüssel deutlich machen, dass wir keine Lobbygruppe sind, die nur ihre eigenen Interessen vertritt, und auch nicht einfach eine Nichtregierungsorganisation. Wir wollen Stimme sein für die Würde und das Recht aller Menschen, vor allem auch derer, die keine Stimme haben, also der Kranken und Schwachen, der Flüchtlinge und Ausgegrenzten.

KNA: Auf welche Mittel setzen Sie dabei?

Marx: In Brüssel sollten wir uns noch mehr vernetzen. Auch frage ich mich schon lange: Braucht man dort nicht eine noch stärkere Präsenz, um im europäischen Diskurs dabei zu sein, etwa eine Art katholischen Think Tank mit klugen Köpfen aus allen Ländern? Darüber sollten wir weiter nachdenken und diskutieren.

Das Interview führten Ludwig Ring-Eifel und Christoph Renzikowski.