Trotz Anschlagsgefahr: Afghanistan hat gewählt

"Afghanistan ist keine Demokratie"

Seit Jahrzehnten versinkt Afghanistan in Krieg und Terror. Mit der Wahl am vergangenen Wochenende verbinden Viele ihre Hoffnung auf Demokratie und Reformen. Thomas Ruttig von Afghanistan Analyst Network, im domradio.de-Interview.

Wahl in Afghanistan (dpa)
Wahl in Afghanistan / ( dpa )

domradio.de: War denn der Verlauf der Wahl in Afghanistan auch für Sie eine so große Überraschung?

Ruttig: Naja, es war schon eine große Überraschung, dass so viele Leute zur Wahl gegangen sind, Männer und Frauen. Allerdings müssen wir sagen, dass die Eindrücke, die wir bisher haben, vor allen Dingen aus den größeren Städten kommen, wo es tatsächlich sehr positiv gelaufen ist. Die Berichte aus den Landgebieten brauchen sehr viel länger. Die haben wir noch nicht. Es könnte sich nachher also ein gemischtes Bild abzeichnen.  

domradio.de: Die Taliban hatten ja eine Anschlagsserie angekündigt. Das ist, Gott sei Dank, nicht gelungen. Es kam jedoch zu vereinzelten Anschlägen. Wie ist denn die Sicherheitslage derzeit in Afghanistan? Ist sie so gut wie es scheint?

Ruttig: Nein, die Sicherheitslage in Afghanistan ist nicht gut. Das kann man so nicht sagen. Wir haben immer noch einen Krieg, der die Taliban und die internationalen Streitkräfte, sowie die afghanischen Streitkräfte einbezieht. Und es hat die vierthöchste Opferzahl von allen Konflikten, die weltweit laufen. Vereinzelte Anschläge, da wäre ich vorsichtig, das zu sagen. Das Innenministerium in Kabul hat inzwischen gesagt, es hat 500 Angriffe gegeben. Allerdings haben die Taliban meistens tatsächlich den Kürzeren gezogen. Es ist nichts wirklich Großes passiert, aber auch da muss man das alles nur relativ sehen. Es hat im Südosten des Landes einen Raketenangriff gegeben auf ein Wahllokal, da sind drei Kinder bei umgekommen. Das ist jetzt für einen Krieg vielleicht nicht viel, aber schon schlimm genug. Also, das Bild der Wahlen in Afghanistan und vom Wahltag wird sich in den nächsten Tagen und Wochen dann vollständig einstellen.

domradio.de: Insbesondere die Frauen haben sich ja in Afghanistan vielfach an der Wahl beteiligt, gerade im Verhältnis zur letzten Wahl. Worauf führen Sie diese angestiegene Wahlbeteiligung zurück?

Ruttig: Ehrlich gesagt, das kann man jetzt noch nicht sagen. Das sind erst Augenzeugenberichte, die aus ein paar der Großstädte kommen. Da hat es bei den vergangenen Wahlen auch schon eine hohe Frauenbeteiligung gegeben, auch in Kabul. In Kandahar im Süden, was konservativer ist, ist es sicher auch nach Berichten unseres Kollegen, der dort gewesen ist, angestiegen. Aber in den Landgebieten sieht das schon ganz anders aus. Es gibt auch einen Bericht aus Kabul, aus einem paschtunischen Wohnviertel, wo kaum Frauen bei der Wahl gesehen worden sind. Wir dürfen uns da von dem Optimismus nicht zu sehr anstecken lassen. Gerade die Frauenwahlbeteiligung ist in der Vergangenheit auch immer eins der Felder gewesen, wo am meisten gemogelt worden ist. In den konservativen Landgebieten lassen die Ältesten und Familienoberhäupter ihre Frauen nicht zur Abstimmung gehen. Die Frauenstimmen werden dann trotzdem gezählt, weil die Ältesten dann mit einem Plastikbeutel voller Wahlausweise zur Stimmstation gehen. Das wird dann halt mitgezählt als Frauenabstimmung. Da muss man dann wirklich vorsichtig sein.

domradio.de: Würden Sie denn soweit gehen und sagen, dass diese Wahl einen Wendepunkt markiert in der jüngeren Geschichte Afghanistans?

Ruttig: Ein Wendepunkt insofern als dass jetzt die Amtszeit Präsident Karsais nach über zwölf Jahren an der Staatsspitze vorbei ist und zum ersten Mal die Afghanen tatsächlich eine Auswahl hatten, sich einen Nachfolger als Staatsoberhaupt auszugucken. Es steht ja auch noch nicht fest. Wir wissen weder das Ergebnis noch wissen wir, ob in der ersten Runde einer der acht Kandidaten über fünfzig Prozent liegt. Man kann davon ausgehen, dass es eine zweite Runde geben wird Ende Mai. Aber was ganz wichtig ist: Es war natürlich ein demokratisches Signal. Gerade die jungen, gebildeten Leute, die in Massen zur Wahl gegangen sind in den Städten, haben ein deutliches Zeichen gesetzt, dass sie demokratische Verhältnisse wollen, dass sie ihre Stimme gehört haben wollen. Aber das heißt natürlich noch nicht, dass Afghanistan eine Demokratie ist. Das ist ein wichtiges Zeichen, ein Schritt nach vorne, aber wichtig wird jetzt, dass der neue Präsident, der aus dem alten System kommt, das zum Teil korrupt ist und nicht besonders effizient gewesen ist - auch was sozialen und ökonomischen Fortschritt betrifft - dass der Änderungen mit sich bringt, die die jungen Leute wollen. Die wollen Reformen. Der Wahltag entscheidet, wer nächster Präsident wird, aber die Zeit zwischen den Wahlen entscheidet, ob das auch ein guter Präsident sein wird.

Das Gespräch führte Christian Schlegel.


Quelle:
DR