Politologe Hans-Peter Schwarz über Helmut Kohl

"Zeitlebens zu seinen katholischen Wurzeln bekannt"

Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl ist derzeit wieder in aller Munde. Zum 30. Jahrestag des Amtsantritts des CDU-Politikers am 1. Oktober 1982 ordnet der emeritierte Bonner Politikprofessor und Kohl-Biograph Hans-Peter Schwarz das politische Lebenswerk des Kanzlers ein.

Autor/in:
Joachim Heinz
 (DR)

KNA: Herr Professor Schwarz, als was wird Helmut Kohl in Erinnerung bleiben: Als Wegbereiter des Euro, als Vater der Einheit oder als "Pate" im Spendenskandal?

Schwarz: Von allen Bundeskanzlern vor ihm hat Helmut Kohl die breitesten Spuren in der Geschichte Deutschlands und Europas hinterlassen. In der Öffentlichkeit, auch unter den Historikern ist seine Leistung bei der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands weitgehend unumstritten. Die Bezeichnung "großer Europäer" klingt zwar etwas pathetisch. Tatsächlich gab es in den neunziger Jahren außer ihm aber keinen anderen Staatsmann, der das Zusammenwachsen Europas so weit vorangebracht hat wie er. Ob und wie die Krise des Euro überwunden werden kann, bleibt abzuwarten. Doch dessen Konstruktionsmängel waren eine Art Gesamtkunstwerk aller Regierungen in Euroland zusammen mit der EU-Kommission. Sie können sie nicht dem Bundeskanzler allein anlasten.



KNA: Und der Spendenskandal?

Schwarz: Die Erregung über den Parteispendenskandal der Jahre 1999/2000 ist noch nicht völlig verklungen. Aus einigem Abstand wird sie aber doch durch die Leistung in der Europapolitik, Außenpolitik und Deutschlandpolitik überstrahlt. Kohl selbst hat für den Parteispendenskandal schwer gebüßt.



KNA: Mit Kohl verbunden ist auch das Schlagwort von der "geistig-moralischen Wende". Was genau steckte dahinter?

Schwarz: Das Schlagwort hat vor allem im Wahlkampf 1980 eine Rolle gespielt. Kohl hat damit einen im bürgerlichen Deutschland, auch bei den Kirchen weit verbreiteten Unwillen gegen den vom linksradikalen Lager ausgehenden Werteverfall und gegen die Kulturrevolution der Achtundsechziger aufgegriffen.



KNA: Was wollte er stattdessen?

Schwarz: Er wünschte eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft und eine Konsolidierung der Westbindung. Mächtige Tiefenströmungen in einer zusehends hedonistischen Großgesellschaft lassen sich jedoch von einem Bundeskanzler nicht umdrehen. Und wenn ein Wendekanzler aus zwingenden Gründen die FDP ins Boot nimmt, ist eine "geistig-moralische Wende" in den umstrittenen Fragen der Rechtspolitik oder der Bildungspolitik kaum zu erwarten. Immerhin wurde in den achtziger Jahren die ins Schleudern gekommene Wirtschaft konsolidiert und die Westbindung verstärkt. Ich selbst habe deshalb dem entsprechenden Kapitel in meiner Biographie die Überschrift gegeben "Halbe Wende".



KNA: Diese Biographie beginnen Sie mit der Schilderung des Doms zu Speyer und der besonderen Beziehung, die Helmut Kohl zu dem Bau hatte. Welche Rolle spielte Religion für den Politiker?

Schwarz: Kohl hat sich zeitlebens zu seinen katholischen Wurzeln bekannt. In den sechziger und siebziger Jahren gehörte er zu denen, die auf die Erneuerung durch das Zweite Vatikanische Konzil große Hoffnungen setzten. Wie alle CDU-Vorsitzenden vor ihm und nach ihm hat er in der Überwindung der Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten im Zeichen des ökumenischen Gedankens eine wichtige Aufgabe gesehen. In umstrittenen Fragen wie beispielsweise dem Schwangerschaftsabbruch versuchte er den Erwartungen der katholischen Kirche weitgehend zu entsprechen, bezog aber keine rigorosen und undurchsetzbaren Positionen.



KNA: An mehreren Stellen schildern Sie das gespannte Verhältnis Kohls zu den Medien. Inwiefern unterscheidet sich der Umgang von Journalisten mit Politikern in der "Bonner Republik" von dem, der heute gepflegt wird?

Schwarz: Die Medien, sofern sie nur ihre Aufgabe richtig verstehen, begegnen allen Bundeskanzlern mit Skepsis, Misstrauen und in der gebotenen Distanz. CDU-Kanzlern gegenüber war diese prinzipiell richtige Grundeinstellung in der Regel stärker ausgeprägt als SPD-Kanzlern. Bekanntlich brachte in der sozialliberalen Epoche eine Mehrheit der Journalisten bei den E-Medien und auch in Teilen der Printmedien den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt mehr Sympathie entgegen als der CDU. Aber je länger je mehr wurden auch sozialliberalen Bundeskanzler kritisch bewertet.



KNA: Wie lief das bei Helmut Kohl?

Schwarz: Kohl selbst ist von vielen meinungsbildenden Blättern vergleichsweise lange und doch wohl über Gebühr heruntergeschrieben und als provinzieller Kanzler verspottet worden. Die Grundeinstellung in den Medien hat sich vielfach erst in den neunziger Jahren gewandelt, als die europapolitischen und außenpolitischen Leistungen zu einer Neubewertung führten. Die Spendenaffäre der Jahre 1999/2000 hat die auf vielen Seiten negativen Bewertung Kohls dann nochmals wiederbelebt. Heute, so hat es den Anschein, haben selbst die lange Zeit kritischen Medien und maßgebliche Publizisten mit dem verdienten, von Krankheit geschlagenen Alt-Bundeskanzler ihren Frieden gemacht. So gehört es sich auch.



KNA: Außer der Krankheit wird Kohls Lebensabend auch von Familiendramen überschattet - wie sieht er selbst rückblickend sein privates Lebenswerk?

Schwarz: Zusammenfassend hat er sich dazu nicht öffentlich geäußert, sondern nur dringend um Respekt für seine Privatsphäre ersucht. Bei der Bewertung der historischen Leistung eines Bundeskanzlers ist es natürlich unerheblich, ob er ein guter oder weniger guter Vater seiner Söhne gewesen ist. Hier kommen andere Kategorien als die der Privatheit ins Spiel.



KNA: Haben Sie schon eine Reaktion von Helmut Kohl auf Ihr Buch erhalten?

Schwarz: Der Alt-Bundeskanzler hat gegenwärtig anderes zu tun als sich in eine doch recht umfangreiche Biographie zu vertiefen. Ich habe ihm das Buch mit einem respektvollen Begleitbrief übersandt und denke, irgendwann wird Gelegenheit sein, zu erfahren, ob er zu den geneigten Lesern gehört und wenn ja, wie er meine Beobachtungen bewertet.



Hinweis: Hans-Peter Schwarz, "Helmut Kohl. Eine politische Biographie", DVA, München 2012, 1.056 Seiten, 34,99 Euro.