Publizist Brumlik für Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten

"Aber bloß keine Demonstrationstermine"

Nach einem Vorstoß der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli wird diskutiert, ob jeder Deutsche und Asylbewerber eine KZ-Gedenkstätte besuchen soll. Der Publizist Micha Brumlik befürwortet dies – aber unter bestimmten Voraussetzungen.

Gedenkstein im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald / © Martin Schutt (dpa)
Gedenkstein im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald / © Martin Schutt ( dpa )

KNA: Sind Sie für Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten?

Micha Brumlik (Deutsch-jüdischer Publizist und Erziehungswissenschaftler): Ich bin grundsätzlich dafür. Und zwar deshalb, weil wenige andere Ereignisse wie die Ermordung von sechs Millionen Juden, Sinti und Roma sowie von sowjetischen Kriegsgefangenen den Geist der bundesdeutschen Verfassung mit ihrem Artikel 1 des Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" geprägt haben. Artikel 1 gehört zu den Prinzipien dieses Landes. Deswegen ist es sinnvoll, und das ist seit einigen Jahren so, dass in den 16 Bundesländern alle Schüler sich in der einen oder anderen Weise verpflichtend mit der NS-Zeit auseinandersetzen müssen. Das ist allerdings von Bundesland zu Bundesland und von Schulart zu Schulart ganz unterschiedlich gut gestaltet.

KNA: Und warum sollten Asylbewerber eine Besichtigung machen?

Brumlik: Weil es sinnvoll ist, dass Menschen, die so oder so in die Bundesrepublik immigrieren, mit diesen Prinzipien vertraut gemacht werden. Ich benutze ausdrücklich nicht den Begriff der Leitkultur, weil ich ihn aus verschiedenen anderen Gründen seiner Unschärfe wegen ablehne.

KNA: Wie müsste eine solche Unternehmung allgemein aussehen?

Brumlik: Die Besuche in KZ- und Vernichtungslager-Gedenkstätten haben nur dann einen Zweck, wenn sie sorgfältig vorbereitet und wenn sie sorgfältig nachbereitet werden. Ein bloßer Demonstrationstermin - also mal kurz rein und wieder raus - wirkt geradezu kontraproduktiv.

Das Ganze ist nur sinnvoll, wenn es mit viel Zeit, mit nicht wenig Geld und mit hoher Professionalität ausgeführt wird. Ich plädiere dafür, dass einzelne Bundesländer, und vielleicht als erstes Berlin, hierzu einen sorgfältig zu evaluierenden Modellversuch starten.

KNA: Wie sollte also ein Pflichtbesuch aus Ihrer Sicht konkret vor- und nachbereitet werden?

Brumlik: Die Betreffenden müssten in zwei, drei Tagen zunächst mit der neueren deutschen Geschichte vertraut gemacht, dann mit den gesellschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus bekanntgemacht werden. Sie müssten zudem eine Einführung in das Wesen und die Geschichte des Antisemitismus erhalten und auf dieser Basis dann mit der anfänglichen, allmählichen Einschränkung der Rechte von Juden im "Dritten Reich" und damit mit einer Entwicklung vertraut gemacht werden, die schließlich in den Vernichtungslagern geendet hat.

KNA: Könnte ein solcher Besuch tatsächlich Antisemitismus vorbeugen? Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat gesagt, ein "Allheilmittel" sei das nicht.

Brumlik: Ja, ein Allheilmittel ist es nicht. Aber ich glaube doch, wenn man nicht nur Schockfotos oder Filme von ausgemergelten Leichen zeigt - was lange ein Fehler in der sogenannten Holocaust-Education war -, sondern das auch biografisch vertieft am Schicksal von einzelnen Opfern und auch Tätern demonstriert, dass das pädagogisch sinnvoll ist. Aber: Wirklich alles kommt auf die didaktische Umsetzung an.

KNA: Wovor warnen Sie in diesem Zusammenhang?

Brumlik: Was nicht sein darf, wäre eine eineinhalb Tage dauernde Kompaktveranstaltung: etwa derart, dass man Filme wie "Mein Kampf" oder "Nacht und Nebel" zeigen, um am Tag danach nach Dachau oder Flossenbürg fahren, dann noch einmal 90 Minuten drüber reden und danach nach Hause fahren würde. Dann sollte man es besser gleich lassen.

KNA: Das würde bedeuten, dass einerseits Lehrer an den Schulen und andererseits die Verantwortlichen in den Integrationskursen für Asylbewerber spezielle Fortbildungen machen müssten.

Brumlik: Allerdings. Wenn Kritiker fragen, warum Menschen, die gar nicht die deutsche Geschichte teilen, mit diesem Teil der Geschichte vertraut gemacht werden sollen, ist die Antwort ganz einfach: weil sie teilweise mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Bürger dieses Landes werden und damit die historische Verantwortung für dessen Geschichte übernehmen. Wohlgemerkt nicht die Schuld - darum geht es nicht -, sondern die historische Verantwortung. So wie vor etwa 30 Jahren in die USA immigrierte Vietnamesen auch heute als Bürger der USA die Verantwortung für die Spätfolgen der Rassentrennung, ja der Sklaverei in den USA zu tragen haben.

KNA: Was ist Ihnen wichtig an dieser Diskussion? 

Brumlik: Mir ist wichtig, dass es mit Blick auf die jüngere Generation nicht darum gehen kann, ausgerechnet migrantische Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu stigmatisieren. Wichtig ist mir, vor dem Hintergrund, dass auch deutsche Schulklassen in aller Regel - so ist es jedenfalls vom Gesetzgeber gewollt, wie es im Einzelnen umgesetzt wird, ist eine andere Frage - mit den Grundprinzipien unserer Verfassung angesichts der Geschichte des NS vertraut gemacht werden. Das Grundgesetz und sein erster Artikel gehen einfach auf diese furchtbare Erfahrung zurück.

Das Interview führte Leticia Witte.


Ausgezeichnet: Publizist und Pädagoge Micha Brumlik / © Stefan Heinze (epd)
Ausgezeichnet: Publizist und Pädagoge Micha Brumlik / © Stefan Heinze ( epd )
Quelle:
KNA