Evangelischer Pfarrer übt Selbstkritik an Gesellschaft

"Die zerbrochenen Grabsteine klagen an"

In der Silvesternacht haben Unbekannte in Iserlohn 30 muslimische Gräber geschändet. Das betrifft die ganze Stadtgesellschaft, sagt Bernd Neuser. Denn auch wenn die Verwüstung beseitigt wurde, Entsetzen und Betroffenheit bleiben.

Ein Grabstein auf dem Hauptfriedhof in Iserlohn ist zerbrochen. / © Markus Klümper (dpa)
Ein Grabstein auf dem Hauptfriedhof in Iserlohn ist zerbrochen. / © Markus Klümper ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie haben bei der Veranstaltung gestern auf dem Hauptfriedhof in Iserlohn eine Ansprache gehalten. Was haben Sie im Kern gesagt?

Bernd Neuser (Pfarrer und Beauftragter für den islamisch-christlichen Dialog Iserlohn): Natürlich habe ich versucht, von christlicher Seite, von der Seite der christlichen Konfessionen die Solidarität und auch das Entsetzen darzustellen. Wer vor diesen zertrümmerten Grabsteinen steht, schwere Granitsteine, der kann das wirklich nicht fassen. Ich habe betont, dass ein Friedhof ein Ort des Friedens ist, ein Ort des Friedens für alle Religionen. Und dass es im Grunde genommen genauso die Stadtgesellschaft Iserlohns betrifft, ob eine Religion betroffen ist oder die Gräber von anderen.

Ich habe aber auch gesagt, die Toten können sich nicht wehren. Sie werden beigesetzt im Vertrauen, dass ihren Gräbern Schutz und Respekt gezeigt wird. Und das hat die Stadtgesellschaft nicht einhalten können. Das habe ich eben auch als Selbstkritik unserer Gesellschaft gesagt, um diese Betroffenheit gegenüber den Familien zu betonen.

DOMRADIO.DE: Auf dem Friedhof liegen Menschen muslimischen Glaubens begraben, Menschen, die in Iserlohn eine neue Heimat gefunden haben. Wie schockierend muss das für die Angehörigen gewesen sein, wenn sie die zerstörten Gräber ihrer Verwandten gesehen haben? Was haben sie da mitbekommen?

Neuser: Ich habe einige Familien sprechen können. Das Entsetzen war da, aber Gott sei Dank auch eine gewisse Gefasstheit, sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, und aus dem Vertrauen, dass wir das gemeinsam als Gesellschaft wieder hinbekommen.

Viele haben mit Händen versucht, diese Gräber erst einmal wieder herzurichten. Es war alles zertrümmert, was zu zertrümmern war und zertrampelt. Sodass es gestern bei dieser Veranstaltung schon wieder ein bisschen ordentlicher aussah, auch wenn jetzt mehrfach zerbrochene Grabsteine auf den Gräbern liegen. Und das wird wohl noch länger so sein. Und die klagen tatsächlich an.

DOMRADIO.DE: Sie haben die Stadtgesellschaft angesprochen. Wie verstörend ist das für eine Stadt, wenn sie denkt: Mensch, bei uns passiert so was, das darf doch nicht sein.

Neuser: Iserlohn hat eigentlich einen lang gepflegten, guten interreligiösen Dialog. Ich selbst habe gestern den Runden Tisch der Religionen vertreten, den ich gemeinsam mit Gabi Iserlohn vom Dekanat Märkisches Sauerland moderiere. Das heißt, wir haben diese Gesprächsebene.

Die Erschütterung ist groß. Die Artikel in der Zeitung lösen viel aus, auch in den sozialen Medien. Wir spüren das. Ich bekomme Anrufe und E-Mails von den betroffenen Familien, die sich für die verbindlichen Worte bedanken und die selbst sagen, wir lassen uns nicht radikalisieren von dem, was da passiert.

DOMRADIO.DE: Gibt es denn Vermutungen, wer dahinterstecken könnte, wer die Täter waren?

Neuser: Nein, gar nicht. Der Staatsschutz ist im Moment dabei zu ermitteln, das ist gut. Natürlich gibt es Vorstellungen, was da passiert sein könnte, aber darüber möchte ich nicht mutmaßen.

DOMRADIO.DE: Über 300 Menschen sind gestern gekommen, um zu sagen: Nicht mit uns, wir wollen das nicht. Wer war alles dabei und welche Gruppen waren vertreten?

Neuser: Erst einmal waren ganz viele muslimische Angehörige da. Und die haben auch gebetet, deutlich sichtbar, als der Imam aus der Moschee noch einmal ein langes Totengebet gesprochen hat. Es waren die politischen Parteien vertreten, auch leitende Politiker. Der Bürgermeister der Stadt Iserlohn, Thorsten Schick, hat gesprochen. Und das trug, eben auch hier von den christlichen Kirchengemeinden, diese Veranstaltung: Zu sagen, wir trauern gemeinsam.

Ich habe mich sehr über den Charakter der Veranstaltung gefreut. Wir haben gesagt, wir wollen die Friedhofsruhe bewahren. Keine Transparente, kein Geschrei und alle trugen Mundschutz. Das war eine sehr, sehr ordentliche, trauernde und nachdenkliche Veranstaltung - einfach würdig. Das fand ich sehr wohltuend, dass es in diesem Rahmen möglich war.

DOMRADIO.DE: Sie engagieren sich seit Langem für den muslimisch-christlichen Dialog in Iserlohn. Und Sie haben gesagt, eigentlich funktioniert das Miteinander bei uns ziemlich gut. Aus welchem Geist gestalten Sie dieses Miteinander?

Neuser: Wir vom Runden Tisch benennen immer wieder dieses Friedensthema. Wir haben die Erfahrung gemacht, wir müssen miteinander reden. Das nebeneinanderher Leben der Religionen, oder auch der verschiedenen Gesellschaftskreise, geht immer so lange gut, bis es Konflikte gibt. Und da brauchen wir stabile Netze. Dann brauchen wir Menschen, die sagen, wir können miteinander reden.

Wir haben diesen Runden Tisch und da kommen die Sachen auf den Tisch, die dran sind. Sodass wir im Grunde genommen eine sehr stabile Ebene haben, des aufeinander Zuhörens. Wir fragen den anderen, was glaubst du? Und wir hören zu mit dem Wunsch, dass der andere uns dann auch wieder zuhört, wenn wir von unserem eigenen Glauben - möglichst lebendig und möglichst persönlich auch - sprechen. Und das ist schon eine Stärke.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR