Missbrauchsskandal - Rörig zieht bittere Bilanz

"Gesellschaft muss konsequenter gegen sexuelle Gewalt vorgehen"

Zehn Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals zieht der zur Aufklärung berufene Beauftragte Rörig eine "bittere Bilanz". Die bislang unternommenen Anstrengungen reichten nicht aus. Der Kampf müsse konsequenter geführt werden.

Schatten eines Kreuzes / © Harald Oppitz (KNA)
Schatten eines Kreuzes / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Herr Rörig, in den vergangenen Jahren ist viel passiert, um sexuellen Missbrauch zu verhindern. Trotzdem ist laut Kriminalstatistik die Zahl der Missbrauchsfälle nicht gesunken. Wird zu wenig getan?

Johannes-Wilhelm Rörig (Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs): Offensichtlich reichen die bislang unternommenen Anstrengungen nicht aus. Das ist die bittere Bilanz, die ich ziehen muss. Das Leid der Mädchen und Jungen etwa in den großen Fällen von Staufen, in Lügde oder Bergisch-Gladbach konnte nicht verhindert werden. Aber ich denke vor allem auch an zigtausende von Mädchen und Jungen, die in ihrer Familie, im weiteren sozialen Umfeld oder auch durch die Nutzung digitaler Medien sexuelle Gewalt erlitten haben.

KNA: Was kann die Gesellschaft tun?

Rörig: Der Kampf gegen sexuelle Gewalt muss noch viel konsequenter geführt werden. Die Gesellschaft muss anerkennen, dass es sich hier um ein Megathema handelt, das jeden angeht. Ich bin immer wieder erschrocken darüber, mit welcher großen Gelassenheit und auch Trägheit sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von Teilen der Gesellschaft hingenommen wird.

KNA: Welche politischen Maßnahmen halten Sie für erforderlich?

Rörig: In den vergangenen Jahren gab es etliche Gesetzesinitiativen, so wurde das Sexualstrafrecht mehrfach verschärft.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) bemüht sich, eine EU-rechtskonforme Vorratsdatenspeicherung auf den Weg zu bringen. Wir dürfen die Spur zu den Tätern künftig nicht mehr verlieren. Dazu könnte auch eine Neuregelung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes beitragen. Damit sollen Internet-Anbieter gesetzlich verpflichtet werden, kinderpornografisches Material in ihren Anwendungen nicht nur zu löschen, sondern auch dem Bundeskriminalamt zu melden.

KNA: Sie begleiten auch den Umgang der katholischen Kirche mit dem Missbrauch schon sehr lange. Wie haben Sie die einzelnen Bischöfe erlebt?

Rörig: Für mich zeichnet sich ein vielschichtiges Bild: Ich habe Bischöfe und andere Kleriker vor Augen, die meiner Wahrnehmung nach sexuelle Gewalt im katholischen Kontext lieber verdrängt haben und vergessen machen wollten. Häufig sind diese Geistlichen auch nicht gut mit Betroffenen umgegangen und haben sie als Bittsteller abgetan.

Von Anfang an gab es aber auch Bischöfe, die zutiefst erschüttert darüber waren und sind, welche Sexualverbrechen Mitbrüder und Geistliche Mädchen und Jungen angetan haben.

KNA: Was sind für Sie die wichtigsten Entscheidungen, die die Bischöfe in den kommenden Monaten treffen müssen?

Rörig: Nach Veröffentlichung der Ergebnisse der großen Missbrauchsstudie im vorletzten Jahr liegen aktuell zwei große Themenpakete unentschieden auf dem Tisch: Dabei geht es zum einen um strukturelle Standards bei der Aufarbeitung, wie etwa die Einrichtung von Aufarbeitungskommissionen in den Diözesen und eine grundlegende Betroffenenbeteiligung. Zum anderen natürlich um die Entschädigungsfrage. Es wird in den nächsten Monaten sehr spannend zu beobachten sein, welche Entscheidungen die Bischöfe hierzu treffen werden.

KNA: Wann rechnen Sie mit einer Entscheidung über die Standards zur Aufarbeitung? Mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bischofskonferenz, Stephan Ackermann, haben Sie sich ja bereits auf ein Eckpunktepapier geeinigt.

Rörig: Ich rechne damit, dass sich die Bischöfe noch im Frühjahr hinter diese Eckpunkte stellen. 2019 haben wir dafür auf der Ebene der Bischofskonferenz mit Bischof Ackermann eine grundlegende "Gemeinsame Erklärung" erarbeitet. Die darin enthaltenen Standards und Kriterien sollen durch die Selbstverpflichtung jedes Bischofs verbindlich werden. Was einzelne Diözesen bereits an Aufarbeitung geleistet haben, soll Berücksichtigung finden.

Dabei ist es übriges auch von größter Bedeutung, dass die künftigen Aufarbeitungskommissionen und die Betroffenen unmittelbare Akteneinsichtsrechte erhalten. Kirchliches und staatliches Datenschutzrecht werden durch die Aufarbeitung nicht ausgehebelt und die Persönlichkeitsrechte beachtet. Das kann aber entsprechend ausgestaltet werden.

KNA: Wie sieht es in der Entschädigungsfrage aus?

Rörig: Ich bin erleichtert, dass sich in dieser Frage im vergangenen Jahr viel bewegt hat. Die Verantwortlichen müssen die Frage mit all ihren Details innerkirchlich entscheiden, um ein weitgehend bundeseinheitliches Vorgehen in den Diözesen hinzubekommen. Für die Betroffenen darf es keine weitere Hängepartie geben. Ich wäre sehr froh, wenn sich die Bischöfe bis zum Sommer auf eine für die Betroffenen akzeptable Entschädigungshöhe und auf ein transparentes Verfahren einigen.

KNA: Papst Franziskus erwähnte beim Anti-Missbrauchsgipfel im vergangenen Jahr, dass Missbrauch am häufigsten in Familien geschieht. Andere Kirchenvertreter verweisen oft darauf, dass bei den Kirchen etwa im Vergleich zu anderen Verbänden wie den Sportverbänden oder den staatlichen Schulen schon viel geschehen ist. Stimmt das?

Rörig: Vertreter der Kirchen lenken den Blick gerne auf andere Akteure wie den organisierten Sport - vielleicht auch, um von eigenen Defiziten abzulenken. Man muss aber sagen, dass es in den Bereichen Prävention und Intervention sowie bei der Ausschreibung von Forschungsprojekten ein großes Engagement der Kirchen gibt.

Es wäre sicher positiv, wenn andere Verbände sich hier an den Kirchen orientieren würden. Auch im Breiten- und Spitzensport gibt es zum Beispiel Abhängigkeits- und Machtstrukturen, die Missbrauch systemisch begünstigen.

KNA: Der Sprecher der Opfer-Initiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, fordert mit Blick auf eine konsequente Aufarbeitung der Kirchen auch, dass Bischöfe zurücktreten müssten, wenn sie Missbrauch vertuscht haben. Wie sehen Sie das?

Rörig: Ich denke schon, dass die Kirche sich die Frage stellen muss, ob jemand im Amt verbleiben kann, der maßgeblich zur Vertuschung beigetragen und Aufklärung verhindert hat.

KNA: Ende vergangenen Jahres hat der Papst das sogenannte päpstliche Geheimnis mit Blick auf Missbrauchsfälle gelockert. Erwarten Sie mehr Signale aus Rom?

Rörig: Für all diejenigen, die sich im katholischen Bereich tagtäglich dafür einsetzen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bekämpft wird, wünsche ich mir dauerhaft diese positiven Signale aus Rom. Das könnte den Widerstand derjenigen schwächen, die sich noch heute offen oder verdeckt gegen eine umfassende Aufarbeitung aussprechen und die Engagierten stärken. Ich bin der Ansicht, wenn die Kirche das Unrecht nicht umfassend aufarbeitet und auch das Leid der Betroffene anerkennt, wird die Kirche die verloren gegangene Glaubwürdigkeit niemals wieder zurückgewinnen.


Johannes-Wilhelm Rörig / © Matthias Jung (KNA)
Johannes-Wilhelm Rörig / © Matthias Jung ( KNA )
Quelle:
KNA