BWV 89, 22. Sonntag n. T.

Bachkantate am 04. November

Das Lied, das Johann Sebastian Bach am heutigen Sonntag zur Grundlage seiner Kantate macht, verbinden wir heute vor allem mit der Fastenzeit: Das Lied von Martin Luther, die Nachdichtung des 130. Psalms: „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“. In Leipzig war dieses Lied schon immer eng mit dem heutigen 21. Sonntag nach Trinitatis verbunden, da es die Hauptgedanken des Sonntagsevangeliums widerspiegelt: Jesus heilt den Sohn eines königlichen Beamten, weil dieser Beamte ihn aus „tiefer Not“, aber auch aus festem Glauben heraus anfleht.

 (DR)

„Was soll ich aus dir machen, Ephraim": So hat Johann Sebastian Bach seine Kantate für den heutigen Sonntag überschrieben und mit diesen Worten, mit denen sich der Kantatendichter an den Propheten Hosea anlehnt, beginnt auch das Werk. Hosea gehörte dem Stamm Efraim an und wirkte in der Zeit von 750 bis 722 v. Christus. Seine Epoche ist zum einen gekennzeichnet durch die politische und wirtschaftliche Blüte unter Jerobeam II, aber auch durch eine politische Unbeständigkeit, die Hosea als Loslösung und Untreue zu Jahwe verurteilt. So lässt er Jahwe sagen: „Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich aufgeben? (...) Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns".

Insgesamt besteht zwischen der Kantate und dem Evangeliums des heutigen 22. Sonntags nach Trinitatis eine enge Beziehung. So war zur Zeit Johann Sebastian Bach am heutigen Sonntag das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger zu hören: Ihm selbst, der zehntausend Talente Schulden hatte, wird die Schuld nachgelassen, weil sein Herr Mitleid mit ihm hat. Seinem Diener aber, der nur hundert Denare Schulden hat, lässt er die Schuld nicht nach, sondern zeigt sich hartherzig. Dies ärgert wiederum seinen Herrn, der ihm den Vorwurf macht: „Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinen Dienst steht, Erbarmen haben müssen?" Und er wirft ihn in seinem Zorn ins Gefängnis.

Im zweiten und dritten Satz geht es jetzt um diese unverzeihliche Sündhaftigkeit des Menschen, der selbst nicht zu vergeben bereit ist.

Dem Rezitativ folgt der dritte Satz, die Arie: „Ein unbarmherziges Gerichte", deren ausdrucksvolles Thema zunächst im Continuo vorgetragen und dann vom Alt aufgenommen wird. Vor allem der Mittelteil bringt lebhafte, leidenschaftliche Verzierungen in der Melodiestimme.

War im zweiten und dritten Satz die Sündhaftigkeit des Menschen das Thema, rückt jetzt - in den Sätzen vier und fünf - die in Jesu Opfertod offenbarte göttliche Liebe, die alle Schuld zudeckt, in den Mittelpunkt.
Der vierte Satz: Ein Rezitativ, das als einfach gestaltetes Rezitativ beginnt, dann aber arios endet. Durch diese musikalische Wendung wird die inhaltliche Wende hörbar gemacht: Von der Gerichtsandrohung zum Trost.

Der fünfte Satz, die Sopran-Arie, wirkt fast tänzerisch und bildet damit einen völligen Gegensatz zu der ersten Arie dieser Kantate. Statt Trauer steht jetzt die Freude im Mittelpunkt.  Mit einem schlichten Choralsatz endet die Kantate.

Bach hat dieses Werk in seinem ersten Leipziger Jahr zum 24. Oktober 1723 komponiert. Von den Instrumenten verwendet Bach 2 Oboen, Streicher und Continuo und - wie schon in den Kantaten der vorangegangenen Sonntage - ein Horn. Offenbar hatte Bach in jenen Wochen einen Bläser zur Verfügung. Denn: Das war keinesfalls selbstverständlich. Auch ein Johann Sebastian Bach hatte damit zu kämpfen, oft zu wenig Musiker bzw. Geld zur Verfügung zu haben, so dass er oft seine Kompositionen von den Musikern abhängig machen musste.

„Was soll ich aus dir machen, Ephraim", BWV 89.
Knabenchor Hannover, Collegium Vocale Gent, Leonhardt-Consort,
Leitung: Gustav Leonhardt.

Quelle/ Literatur: Alfred Dürr: Die Kantaten Johann Sebastian Bachs. Bärenreiter, 1995