Caritaspräsident Neher zu zehn Jahren Tsunami-Hilfe

"Neue Lebensperspektiven eröffnet"

Der zweite Weihnachtfeiertag brachte die Katastrophe. 230.000 Menschen starben beim Tsunami in Südostasien. Es folgte eine weltweite Hilfsaktion. Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, im Interview der KNA.

Der Tsunami in Indonesien, 2004 (dpa)
Der Tsunami in Indonesien, 2004 / ( dpa )

KNA: Herr Neher, nach dem verheerenden Tsunami 2004 startete die deutsche Caritas die größte Hilfsaktion ihrer Geschichte. 230.000 Menschen starben durch die Flutwellen. Hunderttausende verloren ihre Wohnungen und Lebensgrundlage. Wie sieht Ihre Gesamtbilanz der humanitären und Wiederaufbauhilfen heute aus?

Neher: Zwei Faktoren waren für einen gelingenden, nachhaltigen Wiederaufbau von entscheidender Bedeutung: die Hilfe mit den Menschen vor Ort gemeinsam zu planen und die Selbsthilfekräfte der Überlebenden zu stärken. Die Lage ist in den betroffenen Regionen und Staaten natürlich verschieden, aber es ist uns vielerorts gelungen, den Menschen nach der Katastrophe neue Lebensmöglichkeiten zu eröffnen. Wir haben neuen Wohnraum schaffen oder junge Menschen beim beruflichen Neuanfang begleiten können. Vielleicht konnten wir mancherorts sogar zu einer gewissen gesellschaftlichen Entwicklung beitragen. Etwa, wenn es gelungen ist, die soziale Ausgrenzung der Gruppe der Dalits in den vom Tsunami betroffenen Regionen Indiens wenigstens in kleinen Ansätzen zu überwinden.

KNA: Entstanden aber nicht auch Probleme, wenn plötzlich gewaltige Spendenmillionen in ärmste Gesellschaften investiert wurden?

Neher: Da gab es sehr viele Fallstricke. Unser Prinzip war deshalb von Anfang an, den Wiederaufbau langfristig zu organisieren. Etwa wenn es darum ging, Häuser nicht mehr direkt am Meer, sondern geschützt vor möglichen weiteren Fluten ein Stück landeinwärts zu errichten. Da müssen Sie beispielsweise erst mal mit den Behörden über Grundstücke verhandeln. Es reicht nicht, einzufliegen, ein schön angestrichenes Häuschen hinzustellen, ein neues Boot zu überreichen und dann wieder zu verschwinden. Wenn Sie die Akzeptanz und die Würde der Betroffenen ernst nehmen, dann müssen sie mit den Leuten planen. Das braucht Zeit.

KNA: Dennoch gibt es Berichte - zum Beispiel aus Indien - dass plötzlich jeder Überlebende eines Dorfes ein neues Fischerboot erhielt und damit ganze Gemeinschaften aus dem Gleichgewicht gerieten. Oder es wurden an falscher Stelle Häuser gebaut, mit Toiletten, die niemand wollte.

Neher: Es wäre vermessen zu behaupten, dass wir in einer Katastrophe von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß keine Fehler gemacht hätten. Aber ich kann für uns in Anspruch nehmen, dass uns solch grobe Fehlplanungen nicht unterlaufen sind. So haben wir zum Beispiel versucht, nicht jedem sofort ein neues Boot zu finanzieren, sondern genossenschaftliche Modelle zu unterstützen, wo sich mehrere Familien ein Boot teilen. Auch weil vor allem durch die großen Fischtrawler der Großkonzerne vielerorts die Fischbestände ohnehin schon stark dezimiert sind. Oder wir haben versucht, jungen Leuten andere Berufsperspektiven zu eröffnen, indem wir neue Ausbildungsmöglichkeiten etwa als Schreiner oder Elektriker mitorganisiert haben.

KNA: Das klingt nach aufwendiger und damit auch teurer Koordinierung.

Neher: Viele Spender in Deutschland glauben, je weniger Verwaltungskosten eine Hilfsorganisation hat, desto besser würden die Mittel ankommen. Aber das ist so nicht richtig. Wenn Sie Hilfe qualifiziert und verantwortungsvoll einsetzen wollen, dann haben Sie auch einen gewissen Verwaltungsaufwand. Wir halten unseren Verwaltungs- und Projektkostenanteil unter zehn Prozent, aber diesen Anteil braucht man auch, um effektiv zu arbeiten und nicht bloß von Krisengebiet zu Krisengebiet zu fliegen und schnelle "Wohltaten" zu verteilen.

KNA: Was aber ist mit den Katastrophen und Krisengebieten, die es nicht in die Tagesschau schaffen? Bräuchten Sie hier nicht mehr Gelder?

Neher: Ich verstehe jeden Spender, der von einer Katastrophe erfährt und den leidenden Menschen genau hier helfen will. Die andere Seite aber ist, dass der Tsunami vor zehn Jahren auch das Spendenwesen radikal verändert hat. Die Aufmerksamkeitsschwelle ist seitdem extrem gestiegen, so dass es heute selbst große Katastrophen nicht immer in die Medien schaffen. Und dann fehlen uns manchmal die Mittel. Ich nenne als aktuelle Beispiele etwa den Südsudan oder Kongo. Daher ist es schon ein wichtiges Anliegen, dass Spender uns auch Gelder ohne engen Spendenzweck zukommen lassen, um auch Menschen in "vergessenen Katastrophen" helfen zu können.


 

Caritas-Präsident Peter Neher (KNA)
Caritas-Präsident Peter Neher / ( KNA )
Quelle:
KNA