Caritas-Generalsekretär zur Armutsbekämpfung

Politik der Qualifizierung

Wie und was muss geschehen, damit die materielle Existenz vieler Menschen gesichert werden kann? Caritas-Generalsekretär Georg Cremer im Interview.

Armut: Ansichts- und Auslegungssache / © Erwin Wodicka
Armut: Ansichts- und Auslegungssache / © Erwin Wodicka

domradio.de: Wird die materielle Existenz der Menschen in Deutschland nicht über die Grundsicherung gesichert?
Georg Cremer: Ja, das wird sie. Wir haben ein Grundsicherungssystem und natürlich muss politisch entschieden werden, wie hoch diese Grundsicherung sein soll. Und da befinden wir uns in einer politischen Auseinandersetzung, weil wir dieses Grundsicherungssystem zwar natürlich für sehr zentral halten, aber es hat politische Eingriffe gegeben. Bei der Berechnung hat man willkürlich die Gruppe, an der man sich orientiert, von den unteren 20% auf 15% reduziert und man hat sogenannte „verdeckt Arme“ in der Vergleichsgruppe, also wir rechnen ja die Grundsicherung im Vergleich zu Menschen mit niedrigem Einkommen ohne Grundsicherung, dort sind aber auch Menschen vorhanden, die verdeckt arm sind, d.h. sie haben weniger als die Grundsicherung, aber haben keinen Antrag auf Hilfe gestellt. Wenn wir beides korrigieren, müssen wir die Grundsicherung um ca. 50 Euro erhöhen.

domradio.de: Was bedeutet denn Armut in Deutschland eigentlich genau? Wann ist man in unserem Land "arm"?
Cremer: Da gibt es zwei Messkriterien. Das eine sind die Personen, die von der Grundsicherung leben, sie wären bzw. sind arm, aber ihre Armut wird durch Hilfen bekämpft. Und das andere, eine größere Zahl, sind diejenigen, die weniger als 60% des mittleren Einkommens haben. Das ist erst einmal nur ein statistischer Wert. Wenn man jetzt Armen helfen will, aus dieser Situation herauszukommen, dann brauchen wir insbesondere auskömmliche Arbeit. Arbeitslosigkeit ist der wichtigste Grund für Armut, wie immer wir sie auch definieren.

domradio.de: Wie kann ein Ausweg aus der Armutsspirale aussehen?

Cremer: Da gibt es kurzfristige und langfristige Aspekte. Kurzfristig kann und muss man Armut durch Hilfen bekämpfen, und man kann Menschen natürlich dabei unterstützen, wieder einen Job zu finden. Langfristig müssen wir Armut vermeiden durch eine bessere Politik der Qualifizierung, wir haben ein Bildungssystem, das Armut vererbt, und wer wenig Bildung hat, wer eine schlechte Ausbildung hat, der hat dann später auch sehr schlechte Chancen im Leben. Und das finde ich so traurig, dass wir jetzt nur eine Debatte geführt haben über ein paar Sätze, die einmal im Bericht standen und mal nicht drinstanden. Der Bericht ist voller guten Materials, wo Befähigung und Bildung in Deutschland nicht gelingt. Und darüber müssten wir diskutieren.

domradio.de: Katrin Dagmar Göring-Eckardt wirft der Regierung vor, dass sie die Augen vor der Realität der Armut in diesem Land verschließen würde. Was würden Sie dazu sagen?

Cremer: Nun, der zweite, dritte oder vierte Armutsbericht sind alle in ihren Aussagen relativ ähnlich. Jetzt sind wir leider sehr nah am Wahlkampf. Natürlich geht es um die Frage: Wo nimmt man Realität wahr? Etwa im Bildungssystem oder in der prekären Beschäftigung, die wir ja auch in hohem Maße haben. Da kann man ganz konkrete Dinge tun. Man kann etwas für die Bildung tun. Wir streiten uns gerade, ob die Schulsozialarbeit über Ende 2013 hinaus von Bund und Ländern finanziert werden wird. Und natürlich gibt es jetzt ja doch auch einen breiten gesellschaftlichen Konsens zur Lohnsicherung in den unteren Beschäftigungsbereichen. Da muss man konkret handeln, so kann man Armut bekämpfen.

domradio.de: Jetzt sitzt der Deutsche Bundestag zusammen und debattiert heute über diesen Armutsbericht. Dafür sind 45 Minuten veranschlagt. Meinen Sie das reicht?

Cremer: Wenn man nur den Schlagaustausch vollführt, den wir zur Zeit haben, dann würden meiner Meinung nach auch fünf Minuten reichen. Wenn wir eine wirkliche Debatte führen wollen, dann reicht das natürlich nicht. Das kann man auch nicht in nur einer Parlamentsdebatte machen. Dann müsste man eben mit den Akteuren des Bildungssystems beispielsweise sehr intensiv sprechen – es gibt ja eine Caritas-Studie, die besagt, dass in manchen Kreisen jedes sechste Kind in der Schule scheitert, in manchen Kreisen aber nur jedes 20. oder 30. oder sogar jedes 40. Kind. Man kann also handeln und ich würde mir erhoffen, dass diese Debatte sich stärker von dem allgemeinen Schlagabtausch ganz konkreten Problemen zuwendet.