Caritas-Generalsekretär Cremer zum geglätteten Armutsbericht der Bundesregierung

"Extrem ungeschickt"

Im Streit über den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung lenkt das Bundesarbeitsministerium von Ursula von der Leyen (CDU) offenbar ein. Entscheidende Passagen sind in einer neuen Version des Berichts geglättet worden. Für Prof. Dr. Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands, ist dieses Vorgehen "extrem ungeschickt".

Armut: Ansichts- und Auslegungssache / © Erwin Wodicka
Armut: Ansichts- und Auslegungssache / © Erwin Wodicka

domradio.de: Schönen guten Tag, Herr Prof. Cremer. Ein Satz hier weg, ein anderer ein bisschen umformuliert - und schon ist die Armut gar nicht mehr so schlimm - was halten sie davon?
Prof. Dr. Georg Cremer: Das ist nicht gerade ein geschicktes Management in der Bundesregierung. Wir hatten einen Entwurf, der war nicht abgestimmt. Offensichtlich hat es jetzt ein Gerangel zwischen dem Arbeits- und dem Wirtschaftsministerium gegeben, und einige Passagen sind "rausgeflogen oder entschärft worden. Das sind nicht sehr viele, und die Daten sind auch überwiegend weiterhin in dem Bericht enthalten, aber zum Beispiel stand im Entwurf: Ja, man müsse über eine Progression in der Einkommenssteuer nachdenken, um an den privaten Reichtum zu kommen. Jetzt steht in dem neuen Text, man wolle Vermögende für freiwilliges finanzielles Engagement gewinnen. Da hat sich wohl die steuerpolitische Debatte in der Regierung im Bericht niedergeschlagen.


domradio.de: Dann schreien doch alle ganz schnell: Hier ich bin mit dabei! Ein Satz lautet zum Beispiel: "Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt", so hieß es im ersten Entwurf des Berichts, jetzt ist dieser Satz wohl ganz gestrichen worden - auch Aussagen zur Lohnentwicklung fehlen. Warum sind solche Aussagen offenbar nicht gewünscht - oder besser gesagt, sollen der Öffentlichkeit vorenthalten werden?
Cremer: Das ist jedenfalls wenn man etwas vorenthalten wollte, extrem ungeschickt, weil wir jetzt ja genau darüber intensiv diskutieren. Die Daten zur Vermögensverteilung sind weiterhin im Bericht, gestrichen wurde ein bewertender Satz, das ändert aber nichts an dem Faktum, dass zumindest nach den Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Vermögensverteilung noch mal etwas ungleicher geworden ist, während die Armutsquoten selbst seit 2005 in etwa konstant sind. Was mich an der Geschichte ärgert, ist, dass wir jetzt quasi über - ich sage einmal - Bewertungsdetails und diesen Bericht und einzelne Sätze diskutieren und nicht darüber, was dieser Bericht eigentlich nämlich deutlich macht: Dass wir ein Problem in der Vermögensverteilung haben; wir haben aber auch - und dazu gibt es sehr, sehr viel Material in dem Bericht - erhebliche Defizite in der Befähigung von Personen, Defizite im Bildungssystem, eine weiterhin schlechte Ausbildungssituation von jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund und offensichtlich auch Defizite im Qualifikationserwerb in der Schule, die sich dann in der Ausbildung niederschlagen. Und eigentlich bräuchten wir jetzt eine Debatte über diese Politikfelder und nicht über ein Abstimmungsgerangel zwischen dem Arbeitsministerium und dem Wirtschaftsministerium.


domradio.de: Was müsse denn Ihrer Meinung nach in dieser Debatte vor allem enthalten sein?
Cremer: Einerseits sind die Armutsrisikoquoten einigermaßen konstant, trotzdem muss man natürlich überlegen, was kann man tun, um Armutslagen zu vermeiden. Egal welchen Bericht Sie nehmen, es sind immer dieselben Risikogruppen: die Langzeitarbeitslosen, die Alleinerziehenden und - ja auch - die Menschen mit Migrationshintergrund, sofern sie geringe Qualifikationen haben. Das kriegt man nur mit mehr Kinderbetreuung für Alleinerziehende und durch mehr Hilfen für Arbeitsmarktintegration und - das wird ja diskutiert - sicherlich auch durch eine Absicherung prekärer Beschäftigungsverhältnisse mittels einer Lohnuntergrenze in den Griff. Und das andere ist die breite Debatte über Bildung. In dem Bericht steht, dass ein relativ hoher Anteil, die Hälfte der Hauptschulabgänger nur sehr basale Lesefähigkeiten haben. Und gleichzeitig steht im Bericht, dass es in Deutschland 7,5 Millionen funktionale Analphabeten gibt, ja, das hat sicher etwas miteinander zu tun. Wenn das Bildungssystem schlecht ist, dann haben wir auch später funktionale Analphabeten, die haben dann riesige Probleme am Arbeitsmarkt und so weiter. Darüber müssten wir sprechen.


domradio.de: Was ist denn dann der politische Hintergrund einer solchen Beschönigungsaktion? Der Einstieg in die Streichung sozialer Gelder oder wie sehen Sie das?
Cremer: Das glaube ich nicht. Das wäre sehr ungeeignet, weil - mein Gott - wer liest diesen Bericht? Vielleicht liest man ihn jetzt, weil es diese Geschichten gibt. Ich glaube wirklich, dahinter steht nichts weiter als ein Gerangel zwischen zwei Ministerien, wo man einzelne Sätze in dem Bericht entschärft hat, aber an der Datenlage ändert das gar nichts, und wir sollten schnellstens dazu übergehen, über die Daten, die Entwicklungen und den politischen Handlungsbedarf zu diskutieren


domradio.de: Was erwarten Sie jetzt von der Bundesregierung?
Cremer: Ich erwarte, dass wir über Politikfelder sprechen. Und man sollte vielleicht auch überlegen, ob man diesen Armuts- und Reichtumsbericht nicht in unabhängige Hände geben sollte. Der Bericht der Sachverständigen, des Sachverständigenrates wird von unabhängigen Wissenschaftlern geschrieben und der Bundesregierung übergeben, die dann diesen Bericht kommentiert und sagt, was sie damit machen will. Der Armuts- und Reichtumsbericht wird von der Bundesregierung selbst verfasst und ist eine Sammlung sehr hilfreicher, guter Informationen über die soziale Lage in Deutschland in Verbindung mit, ja, regierungsamtlicher Verlautbarung und manchmal auch Beschönigung. Das war in früheren Regierungen so, das war auch bei den SPD-geführten Arbeitsministerien so und ist jetzt natürlich auch so. Und helfen könnte ein unabhängiger Armuts- und Reichtumsbericht.



Das Interview führte Monika Weiß.



Hintergrund

Im Streit über den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung lenkt das Bundesarbeitsministerium von Ursula von der Leyen (CDU) offenbar ein. Entscheidende Passagen seien in einer neuen Version des Berichts geglättet worden, berichtete die "Süddeutsche Zeitung" (Mittwochausgabe). So sei die Aussage "Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt" in der Einleitung des Regierungsdokuments nicht mehr zu finden. Den Bericht, der jetzt den Verbänden vorliegt, soll das Kabinett möglichst noch in diesem Jahr billigen.



Eine frühere Fassung des Berichts hatte im September für Wirbel gesorgt. In einer Stellungnahme hatte das Wirtschaftsministerium klar gemacht, dass der aktuelle Berichtsentwurf "nicht ressortabgestimmt" sei und daher "auch nicht der Meinung der Bundesregierung" entspreche. Vor allem "Forderungen nach höheren Steuern für die, die den Sozialstaat finanzieren", lehnte das Ministerium ab. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) distanzierte sich von der Analyse.