Warum treten Menschen aus der Kirche aus?

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt

Obwohl die Zahl der Kirchenaustritte im Pandemie-Jahr 2020 zurückging, bleibt das Thema brisant. Bereits vor drei Jahren ließ das Bistum Essen eine Studie erstellen, die nachfragt, warum Menschen die Kirche verlassen. Was hat sich seitdem verändert?

Kirchentür / © Harald Oppitz (KNA)
Kirchentür / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Drei Jahre sind vergangen, seit Sie Ihre Studie veröffentlicht haben. Hat sich an den Austritts-Motivationen in Ihren Augen grundsätzlich etwas verändert?

Markus Etscheid-Stams (Leiter des Stabsbereichs Strategie und Entwicklung im Bistum Essen): Ehrlich gesagt, hat sich das alles noch verschärft seitdem, weil die Themen von Missbrauch und Macht in der Kirche auf der einen Seite - und auf der anderen Seite die Frage nach dem Synodalem Weg, nach Veränderungen und Reformen viel stärker und bewusster geworden sind. Beides, auch das Zerren zwischen diesen beiden Polen, sorgt dafür, dass mehr Menschen austreten und die Bereitschaft dazu gestiegen ist.

DOMRADIO.DE: Ihre Studie spricht ja auch von vielen, die schon seit langem Abstand zur Kirche haben, bis jetzt nur noch nicht die Motivation aufbringen konnten, auszutreten.

Etscheid-Stams: Die Gründe für den Austritt sind oft sehr persönlich und ganz individuell. Es ist eher der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Manchmal ist es das Geld. Das ist aber eher der Anlass und nicht der Grund. Es sind oft Erfahrungen von Enttäuschung und Entfremdung, Situationen, in denen Kirche ganz schlecht rübergekommen: Entweder in der Öffentlichkeit, in großen Pressemitteilungen oder eben in ganz individuellen Erfahrungen, bei denen jemand in seiner Lebenssituation – bei der Beerdigung der Großeltern oder wo auch immer - ganz schlechte Erfahrungen gemacht hat. Irgendwann ist das Fass übergelaufen und die Leute treten aus.

DOMRADIO.DE: Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der Unzufriedenheit der Menschen mit der Missbrauchsaufarbeitung und den Austrittszahlen?

Etscheid-Stams: Das kann man gar nicht klar genug sehen. Im ersten Quartal dieses Jahres sind die die Zahlen erheblich höher als im letzten Jahr, was die Austritte betrifft. Die Jahre muss man Corona-bedingt gemeinsam betrachten. Das kann man nicht einzeln sehen. Sie kennen die Schlagzeilen von Amtsgerichten, die elendig lange Wartelisten haben. Das hat damit zu tun, dass Menschen sagen: „Für so ein System möchte ich nicht mehr stehen. Ich möchte zu dieser Institution in Distanz gehen. Ich möchte auch ein Zeichen setzen, vielleicht auch des Protestes.“ Viele dieser Menschen, glaube ich, würden sich nicht als unreligiös, sondern mehr oder weniger als An-Gott-Glaubend bezeichnen. Sie sagen aber: „Diese Institution, an die ich das Geld gebe, die soll es nicht haben. Ich möchte lieber anders damit umgehen.“

DOMRADIO.DE: Stichwort Kirchensteuern. Welche Rolle spielen die beim Austritt?

Etscheid-Stams: In unserer Studie - soweit wir das nachvollziehen konnten – sind sie tatsächlich nur der Auslöser. Am Ende ist es nicht die Frage des Geldes, sondern tatsächlich die Frage der Entfremdung. Wie ist die Organisation? Was tut die Kirche? Was tut sie nicht? Wo habe ich sie als positiv und hilfreich in meinem Leben erlebt und wo eben auch nicht? Da spielt das Geld tatsächlich eher eine untergeordnete Rolle.

DOMRADIO.DE: Gerade Frauen fühlen sich in der katholischen Kirche oft als Mitglieder zweiter Klasse. Wie negativ wirkt sich die festgefahrene Diskussion um Weiheämter für Frauen auf die Austritte aus?

Etscheid-Stams: Das kann ich Ihnen zumindest aus der Studie heraus nicht sagen. Ein wichtiger Punkt war aber allgemein das Image und die Identität von Kirche. Also die Frage, für was Kirche eigentlich steht. Natürlich gibt es viele, vor allem junge Menschen - und die großen Austritt zahlen sind auch leider in der Altersgruppe der 25- bis 35-jährigen zu verzeichnen - die nicht mit einer Institution verbunden sein wollen, die Frauen systematisch benachteiligt. Insofern wird das schon eine hohe Relevanz haben. Wir können das aus der Studie nicht eindeutig sehen, aber die Frage, mit welchem Image ich mich verbinde, wenn ich weiter Mitglied dieser Kirche bin, das spielt eine große Rolle und hat eine hohe Bedeutung. Insofern wird auch das Thema „Frau in der Kirche“ für viele eine hohe Bedeutung haben.

DOMRADIO.DE: Was ist denn die Konsequenz aus Ihren Befragungen zur Studie? Wie muss sich Kirche jetzt verändern, um für die Menschen wieder attraktiv zu werden?

Etscheid-Stams: Wir haben drei Punkte ausgemacht. Das eine ist das Äußere: Wie wirkt die Kirche? Das muss natürlich mit dem Inneren übereinstimmen. Es bringt jetzt nicht nichts, nur eine gute Öffentlichkeit und ein gutes Marketing zu machen, sondern natürlich sind auch Fragen der Rolle der Frau, der Sexualmoral oder andere Themen in der Sache zu klären und den Lebenswelten entsprechend auch zugänglich zu machen. Das ist der eine Aspekt.

Ein zweites Thema ist Kommunikation und Erreichbarkeit. Viele Menschen haben uns in der Studie gesagt, dass sie die Kirche als sehr fremd und als nach innen gewandt, für sie nicht offen wahrnehmen. Es ist also eine Frage der Kommunikation miteinander und der Interaktion. Wollen sich Pfarreien erreichbar machen? Wollen sie den Menschen nahe sein? Wollen sie Angebote für andere machen oder genügt sich Kirche im Ganzen eher selbst?

Der dritte Punkt, Image, Identität und Kommunikation, ist die Qualität der pastoralen Angebote. Das ist der allerwichtigste Punkt. Wir merken, gerade bei Taufe, Hochzeit, Beerdigung, dass der Fokus liegen muss. Der pastorale Anspruch, den wir haben, muss eingelöst werden.

Das Interview führte Michelle Olion.


Markus Etscheid-Stams (Bistum Essen)
Quelle:
DR