Herausforderin Marina Silva liegt vor Wahl in Brasilien hinten

Hoffen auf das nächste Wunder

Marina Silva braucht ein mittelgroßes Wunder, um Brasiliens nächste Präsidentin zu werden. Denn Amtsinhaberin Dilma Rousseff (66) geht am Sonntag mit deutlichem Vorsprung ins Rennen.

Autor/in:
Thomas Milz
Herausforderin Marina Silva  (dpa)
Herausforderin Marina Silva / ( dpa )

Immerhin: Käme es zu einer Stichwahl zwischen den beiden, könnte Brasiliens grünste Politikerin vielleicht doch für eine Überraschung sorgen. Die frühere Umweltministerin und streitbare Christin steht für jenen Neuanfang im Politbetrieb, den Millionen Demonstranten im Juni 2013 forderten. Damals zeigten die Demonstranten offen ihre Unzufriedenheit mit dem Parteienfilz, forderten mehr Geld für Bildung und Gesundheit und mehr Bürgerbeteiligung. "Marina Silva surft noch auf dieser Protestwelle", meint der Politikwissenschaftler Demetrio Magnoli. "Sie personifiziert den Protest der Unzufriedenen gegen den Staat und seine Eliten". In Brasiliens Parteienlandschaft verkörpert die 56-jährige Silva die ewige Outsiderin, eine fast ritterhafte Kämpferin für die edle Sache.

Silva wollte ursprünglich Ordensfrau werden

Was das konkret heißt, bleibe jedoch unklar, so Magnoli, der auch das Outsider-Image hinterfragt. Silvas politische Heimat war lange die regierende Arbeiterpartei PT. Neben dem späteren Staatspräsidenten Luiz Inacio Lula da Silva (2003-2010) galt sie als deren schillerndste Figur, und wie der aus ärmsten Umständen stammende Lula hat auch Silva eine fast märchenhaft anmutende Lebensgeschichte. Als eines von elf Kindern einer Gummizapferfamilie wurde sie 1958 im Amazonas-Bundesstaat Acre geboren. Die Mutter sowie drei ihrer zehn Geschwister starben früh; Silva überlebte zahlreiche Malaria- und Hepatitisinfektionen. Anhängerin der Befreiungstheologie und seit ihrer Jugend in katholischen Basisgemeinden aktiv, gab sie ihren ursprünglichen Plan auf, Ordensfrau zu werden. Mit 16 Jahren brachte sie sich selbst Lesen und Schreiben bei.

Mit dem 1988 ermordeten Umweltaktivisten Chico Mendes gründete sie die Gewerkschaft der Gummizapfer, kämpfte für den Erhalt der Natur und für Arbeiterrechte. Fortan galt sie als Brasiliens grünes Gewissen; das Engagement für den Regenwald brachte ihr weltweit zahlreiche Auszeichnungen ein. 2003 machte Lula sie zu seiner Umweltministerin. Gegen den Widerstand der Agrarlobby reduzierte sie den Raubbau am Regenwald.

Doch 2008 warf Silva, enttäuscht von ihrer Partei, das Handtuch und verließ die Regierung. 2010 trat sie für die Grünen (PV) gegen Dilma Rousseff an und erreichte auf Anhieb 20 Prozent. Danach gründete sie ihre eigene Bewegung "Rede Sustentabilidade" (Netzwerk Nachhaltigkeit), die jedoch nicht zu den Wahlen 2014 zugelassen wurde. So schloss sie sich als Stellvertreterin dem linken Präsidentschaftskandidaten Eduardo Campos an.

Präsidentschaftskandidat Campos starb bei einem Flugzeugabsturz

Dass sie Mitte August nicht in dessen Wahlkampfjet stieg und stattdessen eine Linienmaschine nahm, deutete sie später als einen göttlichen Wink. Denn Campos' Maschine stürzte ab - und Silva erbte seine Spitzenkandidatur. Sofort überflügelte sie Rousseff in Umfragen. Die PT antwortete mit einer Schmutzkampagne: Silva sei eine religiöse Fanatikerin und Fundamentalistin, die ihre politischen Entscheidungen der Bibel entnehme.

Der Hintergrund: Ende der 90er Jahre war Silva einer evangelikalen Freikirche beigetreten, nachdem sie wie durch ein Wunder eine schwere Quecksilbervergiftung überlebt hatte. «Alle Kandidaten haben mit evangelikalen Bündnissen Allianzen geschlossen, aber Marina will man aus ihrem Glauben einen Strick drehen», meint Francisco Borba von der Katholischen Universität Sao Paulo. Dabei habe Silva ihren Glauben stets als Privatsache aufgefasst.

Keine Angst vor erster evangelikalen Präsidentin

Silva will Reizthemen wie Abtreibung und "Homo-Ehe" per Volksentscheid angehen. Die Trennung von Staat und Kirche sei unumstößlich, sagt sie selbst - garantiere doch gerade der laizistische Staat, dass jeder frei seinen Glauben leben dürfe. Angst vor der ersten evangelikalen Präsidentin im größten katholischen Land der Welt müsse man also nicht haben, so Borba; im Gegenteil: "Mit Marina könnte endlich eine auf christlichen Werten basierende Politik jenseits der Konfessionen stattfinden". Dafür bedarf es aber eines neuen Wunders, diesmal an den Wahlurnen.


Quelle:
KNA