Zerrisen in Gottessuche

Lew Tolstoi

Er hat Meisterwerke wie ‚Krieg und Frieden‘ und ‚Anna Karenina‘ erschaffen und gilt als größter russischer Dichter und Schriftsteller: Lew Nikolajewitsch Tolstoi, geboren am 9. September 1828. Er selbst war innerlich zerrissen und auf der Suche nach Gott.

Lew Tolstoi / © Gemeinfrei
Lew Tolstoi / © Gemeinfrei

Am 9. September 1828 wird Tolstoi als vierter Sohn eines Adligen auf dem Landgut Jasnaja Poljana geboren. Mit neun Jahren ist er Vollwaise.

Tolstoi irrt durchs Leben

Er sucht Zerstreuung bei Jagden und bei Gelagen im Kreise anderer wohlhabender Adeliger. Er ekelt sich vor sich selbst.

 "Ich bin hässlich, unordentlich… reizbar, lästig für andere, unbescheiden, intolerant, unkeusch, unbeständig, auf dumme Weise eitel und leidenschaftlich wie alle Charakterlosen."

Begegnung mit dem Tod

1851 wird er Artillerieoffizier in der zaristischen Armee und nimmt am Krieg im Kaukasus teil. Seine Erfahrungen verarbeitet er in Berichten und Erzählungen

"Auf dem Feld lagen die Toten wie Garben auf einem guten Ackerfeld. Die Verwundeten krochen zu zweien und dreien zusammen, und er hörte ihr Schreien und Stöhnen, das ihm zuweilen wie Verstellung vorkam."

Ruhm und Scheitern

Ob es Kriegsnachwirkungen sind, weiß man nicht, aber, 1869, als auch  sein Bestseller ‚Krieg und Frieden‘ erscheint, leidet Tolstoi unter Depressionen.

Sein plötzlicher Ruhm ist ihm zuwider. Mit Anfang 50 schliddert er in eine Midlife-Crisis …

"Es überkamen mich zuerst Augenblicke des Zweifels, des Stillstands des Lebens, und ich verlor die Fassung und verfiel in Verzagtheit. Wenn ich an den Ruhm dachte, den mir meine Werke erwerben würden, sagte ich zu mir selbst : ‘Nun, gut, du wirst berühmter als Gogol, Puschkin, Shakespeare – und was dann ? "

Gottessuche

Trost findet der Dichter im Leben auf seinem stattlichen Landgut. Dort studiert er die Bibel. Sein Schriftstellerkollege Ivan Turgenjev ist nach einem Besuch dort entsetzt :

"Er hat einen ganzen Koffer voll mystischer Ethik und Pseudo-Interpretationen. Ich sagte ihm, dass bei alledem etwas nicht richtig sein könne. Er antwortete: Es ist das einzig Richtige! "

Tolstoi bastelt sich auf Biegen und Brechen seinen ganz eigenen Glauben zusammen. Er ist sich sicher :

"Ich habe beim Lesen der Evangelien die Lehre Christi mit zweifelloser Klarheit erfasst."

Exkommunikation

Die russisch-orthodoxe Kirche sieht das anders. 1901 wird Tolstoi exkommuniziert. Denn: Tolstoi lehnt die Dreieinigkeit von Gott, Christus und Heiligem Geist genauso ab wie die Jungfrauengeburt Mariäs. Zudem ist Jesus für ihn kein Sohn Gottes:

"Ich glaube, dass Gottes Wille ganz klar und verständlich ausgedrückt ist in den Lehren des MENSCHEN Jesus. Den als Gott zu betrachten und anzubeten ich für die größte Gotteslästerung halte …"

Isolation

Tolstoi selbst wendet sich aktiv von seinem alten Leben ab: 1891 schreibt er einen Brief, in dem er festlegt, dass er auf alle Ansprüche an Werken verzichtet, die vor seiner – wie er es nennt – "zweiten Geburt"   entstanden sind. Dies bezieht sich vor allem auf seine Welterfolge ‘Krieg und Frieden ‘ und ‘Anna Karenina’.

Einsamer Tod

Im November 1910 verfasst er schließlich einen Abschiedsbrief an seine Frau

"Meine Lage im Haus ist untragbar geworden. Von allem anderen abgesehen, kann ich nicht länger in diesen Verhältnissen des Luxus leben ..."

Er stiehlt sich aus dem Haus und besteigt einen Zug. Doch die Flucht überanstrengt ihn. Unter Fieberschüben bricht er auf dem kleinen Bahnhof Astapowo im Süden Russlands zusammen. Als seine Frau zu ihm gelassen wird, liegt der Dichter bereits im Koma.

In der Wohnung des Stationsvorstehers haucht Tolstoi am 10. November 1910 sein Leben aus.