Das Leben ist kurz – Aber wunderschön

Der Babyahorn

Auf dem Weg nach Köln sah ich ihn aus den Augenwinkeln, den riesigen Baum. Übersät mit knospenden Blüten. Überall schimmerte er weiß. Am liebsten hätte ich angehalten. Aber das ging auf der Autobahn schlecht. Mein Herz hüpfte dennoch einen Kilometer in die Höhe. Frühling ist, selbst vom Auto aus, wunderbar.

Ahornblatt / © KMJ aus der deutschsprachigen Wikipedia [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-SA-3
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Frühling habe ich schon immer geliebt. Wenn die Sonne wärmer wurde, wartete ich Tag für Tag auf den erlösenden Satz meiner Mutter: "Es ist warm genug für Kniestrümpfe."  Triumphierend verbannte ich augenblicklich die kratzenden Wollstrumpfhosen. Gerad so, als ob mit Kniestrümpfen das Leben begänne.

Das Leben bestand dann zum Glück aus mehr, als aus Kniestrumpfsglück. Aber das Frühlingsglück, das Scharen von Knospen und Blüten in allen Farben und Formen brachten, dieses Glück ist immer bei mir geblieben.

Wie beim letzten Waldspaziergang. Als ich einen knospenden Ast am Wegesrand zu mir ziehe und sacht das noch völlig verknäuelte, winzige Blatt aus seiner Knospenhülle löse. Es unter den Augen der anderen aufrolle. "Oh! Ein Babyahorn!" ruft die Große verzückt, "Schau mal, alles ist schon dran!" Jetzt beugen sich alle staunend über meine Hand. Gerad so, als würden sie an einer winzigen Babyhand staunend nachzählen, dass wirklich alle Fingerchen dran sind.  

Aber vielleicht ist es genau das: Diese Ehrfurcht, mit der wir auf Babyfingerchen schauen, zart und perfekt zugleich, kommt mit jedem Frühling neu in die Welt. Auch das Staunen: Wie, um alles in der Welt, geht das eigentlich? Wie wird aus dem kleinen, unscheinbar-grauen Sonnenblumenkern, über den Sommer eine Sonne, so groß wie ich selbst? Nur weil ich den Kern in die Erde stecke? Ich kann noch so viele Lexika wälzen und mir kleinklein erklären lassen, was da biologisch passiert. Ich kann doch nicht aufhören mich zu wundern. Darüber dass eine solche Verwandlung möglich ist.

Mein E-Mail-Account plingt. "Das Leben ist schön. Das sagt jetzt einer, der immer weniger davon hat“, schreibt ein Freund, der mit den immer düsteren Prognosen seiner Krebsdiagnose kämpft.

Vielleicht ist es das, was der Babyahorn vom Wegesrand in unsere Herzen flüstern wollte: "Das Leben ist schön. Und so kurz. Noch bevor das Jahr vorbei ist, wehe ich welk und braun vom Baum.“

Heute soll das Wetter schön werden. Ich glaube, ich muss unbedingt nachschauen, ob aus meinem Babyahornblatt schon ein Kindergartenkind geworden ist.

(Erstausstrahlung: 12.04.2015)