Kölner Erstaufführung der Oper Jeanne d'Arc von Walter Braunfels

Die Heilige Johanna in der Apokalypse von heute

Tatjana Gürbaca inszeniert die lyrische Tondichtung von Walter Braunfals über das Leben der Heiligen Johanna als apokalyptisches Zivilisationsdrama.

Jeanne d'Arc - Oper von Walter Braunsfels / © © Paul Leclaire
Jeanne d'Arc - Oper von Walter Braunsfels / © © Paul Leclaire

Ein halbzerstörter Flügel, eine verrostete Spüle, ein Flugzeugwrack im Berg, zerbrochene Boote – ein Tsunami aus Zivilisationsmüll bildet die Bühnenwand der Oper im Staatenhaus. Ein Heer von Menschen, mühselig und beladen mit Koffern und Decken, Mütter mit Kindern an der Hand, ziehen in Zeitlupe einen müllbeladenen Steg ins Publikum hinein. Regisseurin Tatjana Gürbaca inszeniert die Heilige Johanna mit Anspielung auf die Balkanroute.

Das kleine, verspielte Mädchen Johanna folgt dem Ruf des Heiligen Michael, dem depressiv-verstörten König Karl von Valois zu helfen, die Stadt Orléans aus dem Würgegriff der Engländer zu befreien. König Karl im Schlafanzug, beeindruckend gesungen und dargestellt von Matthias Klink, versteckt sich regressiv unter seiner gesteppten Schmusedecke vor der Verantwortung. Nur ein Wunder kann helfen, singt Ritter Blaubart – und das ist Johanna.

Schweren Herzens lässt Johannas Vater sein "seltsame Kind" los. Zu König Karl sagt die unbeirrbar glaubensstarke Johanna, dass es allein darauf ankomme zu wollen und spricht ihm und seinen Gefolgsleuten Mut zu. Ihr Gottvertrauen führt die Menschen von Orleans in den Sieg. In einer kitschig anmutenden Krönungsszene mit leuchtenden Heiligenscheinen jubelt das Volk, während ihr König Karl sich dümmlich gebärdet wie Kaiser Nero alias Peter Ustinoff.

Kritisch blickt die Inszenierung auf die schnelle Begeisterung der Masse, dem Versagen politischer Führung wie auch auf die katholische Kirche und ihre Heiligen. Die Heiligen Katharina und Margarete, die Johanna ihren Märtyrertod vorhersagen, während sie Hüppekästchen spielen, wirken wie unreife Gören. Einem Nosferatu gleich spricht der Inquisitor das Urteil über die vermeintliche Hexe Johanna, um später den Fehler zu bekennen. Gürbaca spart nicht an christlich motivierten Bildassoziationen. Wie in einem Freeze erstarren Menschen in Kreuzigungs- oder Grablegungsdarstellungen, Altarbildern gleich.

Tief bewegend sind die lyrischen Texte, die Komponist Braunfels für sein Musikwerk gefunden hat. Musikalisch ist die Kölner Erstaufführung von Braunfels‘ Jeanne d’Arc ein Hochgenuss. Die Solisten wie das Gürzenichorchester begeistern. Die Mädchen- und Knaben des Kölner Domchores glänzen mit ihren Stimmen.

Das Bühnenbild und die kreative Überfülle der szenischen Metaphern ist für die Zuschauer eine echte Herausforderung, einem Wimmelbild von Ali Mitgutsch gleich. Doch wer sich auf Entdeckungsreise begibt, gewinnt einen hohen Erkenntnis- und Diskussionwert.

Am Ende der Oper wird alles auf Anfang gesetzt – in Zeitlupe bewegt sich der verlorene Menschentross in eine ungewisse Zukunft. Tatjana Gürbaca inszeniert die unter dem Schrecken des Nationalsozialismus geschaffene Oper von Braunfels als ein Aufruf an jeden einzelnen, nicht die eigene Schwäche und Ohnmacht zu sehen, in Zweifeln zu verharren, sondern sich aufzumachen und sich mutig den Unrechtsverhältnissen entgegenzustellen.

Birgitt Schippers