Nachrichtenarchiv 10.06.2010 16:56

La Nana – Die Perle

Eine Frau Anfang 40, die als Hausmädchen für eine großbürgerliche chilenische Familie arbeitet, ekelt jede weitere Hilfskraft aus dem Haus, bis sie sich mit einem neuen Mädchen anfreundet. Der Film zeichnet das Wohlstandsmilieu, in dem er spielt, als widersprüchliche Welt, in der im Herren-Diener-Verhältnis alte feudale Muster weiterleben und mit moderner Lebensart kollidieren. Dabei mündet das Porträt der sperrigen, vorzüglich gespielten Hauptfigur und ihres Lebensumfelds in eine überzeugende Entwicklungsgeschichte.

 (DR)

Eine Frau Anfang 40 in einer Hausmädchenuniform bewegt mit stoischer Miene den Staubsauger durch ein Schlafzimmer. Sie ignoriert die wütenden Schreie ihrer Kollegin, die an der verschlossenen Haustüre rüttelt. Raquel hat sie ausgesperrt, denn Raquel duldet keine Kollegin; sie kümmert sich allein um die liberal-konservative chilenische Großbürgerfamilie mit dem großen Haus und den vier Kindern. Nach mehr als 20 Jahren Arbeit fühlt sie sich als Teil dieser Familie, und die Familie ist glücklich mit ihr. Pilar die Mutter, ist Hochschuldozentin; Mundo, ihr Mann, zieht sich bei häuslichen Krisen am liebsten in die Welt seiner Modellschiffe zurück. Alles scheint in Ordnung, aber immer wieder vermittelt der Film ein Gefühl der Unsicherheit, einer herannahenden Katastrophe, eines Unheils hinter der heilen Fassade.

Schon gleich zu Beginn des Films, als die Familie Raquels 41. Geburtstag feiert, wirkt das Hausmädchen abgespannt, fast grimmig. Schnell treten die Spannungen zwischen Raquel und der ältesten Tochter Camila zu Tage, schnell auch der bis zur Einförmigkeit routinierte Alltag; deutlich wird auch, dass Raquel längst auf ein eigenes privates Leben außerhalb der Hausmauern ihrer Arbeitgeber verzichtet hat und zunehmend unter gesundheitlichen Problemen leidet. Daher möchte ihr die Familie eine Hilfskraft zur Seite stellen, zunächst die junge Peruanerin Mercedes, dann den mit allen Wassern gewaschenen Hausdrachen Sonia. Alles vergeblich, denn mit geschicktem Psychoterror schafft es Raquel immer wieder, die verhasste Konkurrenz aus dem Hause zu treiben. Ganz besonders hasst sie das kleine Kätzchen der ältesten Tochter, dem das peruanische Dienstmädchen den Namen „Lima" gegeben hat. Als Raquel eines Tages wieder ohnmächtig zusammen bricht und das Bett hüten muss, stellt die Familie Lucy ein, eine fröhliche und unkonventionelle junge Frau vom Land. Alle Strategien Raquels, Lucy aus dem Haus zu ekeln, scheitern. Erste Lücken im seelischen Panzer Raquels tun sich auf.

Der 31-jährige chilenische Regisseur Sebastián Silva greift ein Standardthema junger lateinamerikanischer Filmemacher auf: die abgeschirmte Welt der Wohlhabenden mit ihren Angestellten in gebügelten Uniformen, die, so der Regisseur mit leichtem Sarkasmus, wohl die Welt sei, die die jungen Filmemacher des lateinamerikanischen Subkontinents am besten kennen würden. Ein Ambiente, bei dem die Dienstbotenkammer wie ein feudales Relikt wirkt, dessen Existenz nicht zur vordergründigen Modernität der Familien passen will und jeden Tag immer wieder neu mit konzentrierter Herzlichkeit überspielt werden muss. 500. 000 Dienstmädchen gibt es laut Silva in Chile, trotzdem steht für ihn die soziale Thematik nicht im Vordergrund. „La Nana" überrascht durch eine große Subtilität, optiert niemals für einfache Lösungen aus dem Genrebaukasten und baut trotzdem eine große Spannung auf. Immer wieder ist der Film mit Momenten sehr trockenen chilenischen Humors durchsetzt und liefert Beobachtungen zahlreicher alltäglicher Details.

„La Nana" ist zwar ein Ensemblefilm, lebt aber ganz besonders von der Hauptdarstellerin Catalina Saavedra, deren Gesicht zwischen introvertiert, fast emotional versteinert, und kindlicher Neugierde, zwischen schroffer Abwehr und rührender Zuneigung, ruhiger Abgeklärtheit und einer Einsamkeit schwankt, die fast schon psychotisch wirkt. Ob sie sich prüfend im Spiegel anschaut oder sich die Gorilla-Maske des ältesten Sohns überzieht: Catalina Saavedra verkörpert brillant den Wandel der Hauptfigur, die allmähliche Öffnung zu einer Welt jenseits der Hausmauern. Der Film ist weder Thriller noch soziale Anklage, sondern ein brillanter psychologischer Entwicklungsfilm, eine Geschichte aus einer ebenso archaischen wie hochmodernen Welt, bei der man dauernd auf einen Mord, einen Unfall oder irgendeine psychotische Aktion wartet und am Ende froh ist, dass nichts davon eintritt.