Walter Braunfels‘ Große Messe op. 37 in der Vorstellung

Klanggewaltiges Glaubenszeugnis

Der mit Köln eng verbundene Komponist schuf mit der Großen Messe in den 1920er Jahren eine Vertonung, die die gesamte Bandbreite der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten nutzt.

Frankfurter Dom im Abendrot  / © Marc Tirl (dpa)
Frankfurter Dom im Abendrot / © Marc Tirl ( dpa )

Wie für viele Komponisten gilt auch für Braunfels: Ohne seine Biographie sind seine Werke kaum zu verstehen. Der Theologe Dr. Gunther Fleischer stellt Person und Werk in Cantica vor.

1882 wurde Braunfels in Frankfurt geboren. Die Familie war evangelisch, hatte aber auch jüdische Wurzeln. Mehrere Erlebnisse bestimmten sein künstlerisches Wirken. Besonders einschneidend scheint eine Verwundung im ersten Weltkrieg gewesen zu sein. Sie führt, möglicherweise durch den Einfluss seiner katholischen Ehefrau schon vorbereitet, zur Konversion Braunfels' zum Katholizismus. Musikalisch ist sie ablesbar am Wechsel von der dämonischen, an Berlioz orientierten Vertonung des sechsten Kapitels der Offenbarung  1910 zur Bruckner-inspirierten Vertonung des Te Deum 1920.

Dann folgt in sich noch steigernder Intensität 1923-27 die Große Messe. Alles an ihr ist groß: Die Wahl der Mittel, die Dauer, die bezwingende Gewalt des Ausdrucks. Bach, Beethoven und Bruckner kommen zusammen und werden mit den Mitteln der Zeit gesteigert. Zu ihnen gehört die orchestrale Größtdimensionierung, wie etwa bei Richard Strauss oder Gustav Mahler. Und doch: Braunfels weiß die Mittel auch zu bändigen. Das Kyrie, extrem schwer zu singen in seinen harmonischen Anforderungen, ist Mystik pur.

Hier baut sich über den dunklen, übermäßigen Akkorden des Orchesters ein geradezu schwebender, ständig nach oben strebender Gesang auf, der sich in reines g-Moll auflöst. Der Mensch streckt sich dem angerufenen Kyrios entgegen. Vom ersten Augenblick an lässt Braunfels - etwa im Gegensatz zum gleichzeitig seine Glagolitische Messe komponierenden Janáček - keinen Augenblick lang einen Zweifel daran, dass er glaubt, was er musikalisch zum Ausdruck bringt. Ein Kritiker schreibt treffend, angesichts der Aufführung, deren Mitschnitt Sie heute hören: "Das wichtigste Argument für die Große Messe ist ihre innere Wahrhaftigkeit, die spürbare Identifikation des Komponisten mit seinem Werk."

Dass er auch anders kann als in Mystik zu verfallen, zeigt das kontrastiv folgende Gloria in H-Dur. Man meint fast, Braunfels möchte Beethovens Missa solemnis übertreffen.  Der Anfang ist der auskomponierte und nicht enden wollende Freudentaumel und die pure Lust, Gott die Ehre zu bringen.

Dieser Glaube, der Tiefe, Inbrunst und Lebensfreude zugleich beinhaltete - Braunfels schwärmte von Italien, dem Land der Zitronen, an den ihn sein Garten am Bodensee erinnern sollte - trug den Komponisten auch  in schweren Zeiten. War er neben Strauss bis 1933 der am meisten aufgeführte Opernkomponist in Deutschland und wegen seines Erfolges schließlich in Köln zum Direktor der Musikhochschule ernannt worden, brach für ihn als Bürger mit jüdischen Wurzeln mit den Nazis alles zusammen - keine Aufführungen, keine Ämter. Zwar wurde er nach 1945 von Konrad Adenauer wieder auf seinen alten Posten an der Kölner Musikhochschule gesetzt, aber die Wiederaufführung seiner Werke  ließ ungefähr 50 Jahre auf sich warten. Seine geistliche Oper "Verkündigung" nach Claudel wurde 1948 uraufgeführt, dann erst wieder 1992. Bereits 1954 starb Braunfels in Köln.

In seiner Messe aus den noch goldenen Zwanzigern überrascht Walter Braunfels mit immer neuen Mitteln. So wird das Credo zunächst mit einem von Trompete und Posaune vorgestellten weiträumigen Thema eröffnet. Es ist bereits das verfremdete Credo-Thema, das dem gregorianischen Ordinarium entnommen ist. Dann aber folgt nicht der volle Chor, sondern Kindergesang. Ein Knabenchor intoniert das Credo in aller Schlichtheit, vielleicht gemäß Ps 8: "Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen bereitest du dir Lob". Möglicherweise war Braunfels in Glaubensdingen aber auch von einem gewissen Reinheitsideal beseelt, dass er durch den Vorlauf der Knabenstimmen vor den Erwachsenen zum Ausdruck bringen wollte.

Musikalisch ist spannend, dass der Einsatz des einstimmigen Knabenchores  mit seinem gregorianischen Thema über einem völlig instabilen harmonischen Akkordgewusel einsetzt, um sich in klaren Schritten auf den Zielton f zuzubewegen, unter dem auf einmal alle Unklarheit verschwindet und ein reines Des-Dur auftaucht. So setzt sich, auch wenn es das Ohr vielleicht gar nicht hört,  Glaube durch die Wirren der Zeit durch.

Zwei Besonderheiten hat die große Messe von Walter Braunfels hinsichtlich der Auswahl ihrer Sätze: Es gibt ein Offertorium zum Fest des Namens Jesu, dem der Komponist  letztlich mit dem gesamten Werk, hier aber ausdrücklich seine besondere Verehrung zukommen lassen will. Außerdem wird, ganz entsprechend dem Liturgieverständnis vor dem zweiten vatikanischen Konzil,  die Wandlung als punktueller  Höhepunkt der Eucharistiefier mit einem Orgel-Interludium unterlegt, das man heutzutage durchaus als Begleitung während der Kommunionausteilung spielen könnte.

Es gibt einen Teil der Messe, den Walter Braunfels nach eigenen Worten "über alles liebte":  den Schluss des Agnus Dei; die Bitte um den Frieden. Die Takte, die daraus erklingen, sind überschrieben "mit großer Ruhe". Es ist eine fast himmlische Ruhe, die Braunfels in Töne gesetzt hat, verbunden mit einer gewissen Vorsicht oder Zurückhaltung beim Aussprechen der Bitte. Einkomponierte Pausen unterbrechen die ständig aufsteigende Gesangslinie. So kennt die Große Messe von Walter Braunfels von der Mystik über den Freudentaumel und die Emphase bis zur Bescheidenheit alle Ausdrucksformen menschlichen Betens und Glaubens.

Text: Dr. Gunther Fleischer

(Erstsendung: 23.08.2015; Wiederholung 07.08.2016)


Dr. Gunther Fleischer (links) im Gespräch (DR)
Dr. Gunther Fleischer (links) im Gespräch / ( DR )