Peter Michalzik über den Aufbruch auf dem Monte Verita

1900 wurden Visionen Wirklichkeit

Wer bin ich? Was esse und trinke ich? Und was tut der Welt und meinem Körper gut? Diese Fragen gehören für uns heute zum Alltag. Vegetarismus ist nichts Exotisches, sondern ein Teil unseres Gesellschaftslebens – wie Pazifismus, Psychologie oder Wellness. In seinem Buch "1900 – Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies" erzählt Peter Michalzik von der Geburtsstunde des modernen Lebens – auf dem Monte Verita.

Peter Michalzik / © Manfred Kötter (DUMONT)
Peter Michalzik / © Manfred Kötter ( DUMONT )

Der christliche Gaube hatte als allgemeingültige Kompassnadel des Lebens um 1900 seine institutionalisierte Gültigkeit verloren. Dazu verwirrte die Industrialisierung die Menschen. Sie fühlten sich von den Maschinen fremdbestimmt. Die großen, lauten Städte, die neuen Maschinenwelten – all das führte zu Überforderungen. Neurasthenie, vergleichbar dem heutigen Burnout, galt als Volkskrankheit. Im DOMRADIO.De Interview zieht Peter Michalzik eindeutige Parallelen zwischen der Zeit um 1900 und dem Lebensgefühl heute. "Die Digitalisierung, das Internet, das Smartphone mit den zunehmenden Beschleunigungen der Kommunikation setzt die Entfremdung durch die Maschinen fort, die damals begann", sagt er. Und genau deshalb ist es spannend, die Aussteiger- und Aufbruchsbewegungen zu Beginn des 20.Jahrhunderts genau anzuschauen, so wie der Autor das in seinem Buch macht.

Die Suche nach einem neuen Leben

Zurück zur Natur, weg von den alten bürgerlichen Konventionen, rauf auf den Berg der Wahrheit. Das sagten sich um 1900 Künstler, Intellektuelle und Visionäre, die sich auf dem Monte Verita am Lago Maggiore ansiedelten, um nach dem Sinn des Lebens zu suchen – und zwar nicht nur theoretisch, sondern mit Haut und Haaren. Peter Michalzik erzählt in seinem Buch von diesen Menschen, von Nietzsche und Tolstoi, deren Ideen von den intellektuellen Aussteigern und Visionären aufgesogen wurden, von den auch kauzigen Einzelgängern, die in einer Art Kommune friedlich zusammenlebten – ihren eigenen Acker bestellten und neue Lebensformen und Ideen ausprobierten. Als Geburtsstunde des Individualismus möchte Michalzik diese Zeit nicht bezeichnen, eher als Geburtsstunde des Gewissens. "Wenn heute ein Vegetarier sagt, er esse kein Fleisch, weil das nicht nur seiner Gesundheit schade, sondern auch den Tieren und der Welt, dann tut er das aus Gewissensgründen, die so zum ersten Mal von den Visionären auf dem Monte Verita formuliert wurden".

Sehnsucht nach Bekenntnis und Transzendenz

Jeder versuchte damals auf seiner Weise, sich selbst und der Natur nahe zu kommen. Michalzik erzählt von einer großen Sehnsucht nach Bekenntnis, nach Transzendenz, Erlösung und Mythos – nach dem Sinn des Lebens . Aber was ist dabei herausgekommen? Schon bald begann der erste Weltkrieg. Sind die Utopisten gescheitert? "Nein", sagt Peter Michalzik. "Diese Idee, dieses Gefühl und diese Sehnsucht, dass man an irgendeinem Ort – auf einem Berg, an einem See, im Süden - mit anderen Menschen eine Gemeinschaft gründet, in der alle gut leben können, dieser Gedanke hat doch etwas berührendes, eigentlich für alle Menschen, die ich kenne, ob sie es dann machen oder nicht, das ist etwas anderes, aber der Gedanke, der lebt".