Michael Köhlmeier über "Das Mädchen mit dem Fingerhut“

Gottes Liebling ist ein Kind, das friert und hungert

"Ich bin vielleicht keine hundert Meter von so einem Kind entfernt und weiß es nicht“, sagt Michael Köhlmeier im domradio.de Interview. Als der Autor in den Nachrichten hörte, dass zehn Kinder aus dem österreichischen Flüchtlingslager Traiskirchen verschwunden sind, war das für ihn auch ein Auslöser, seine Geschichte über ein Flüchtlingskind zu schreiben, das durch ein fremdes Land irrt. "Das Mädchen mit dem Fingerhut“, so heißt sein neues Buch.

Michael Köhlmeier / © Peter-Andreas Hassiepen
Michael Köhlmeier / © Peter-Andreas Hassiepen

Ein Mädchen, sechs Jahre alt, irrt allein durch eine fremde Welt, es friert, es hat Hunger. Das Kind findet bei einem Markthändler Unterschlupf, dann kommt es ins Kinderheim, dann lebt es auf der Straße. In seinem Buch begleitet Michael Köhlmeier das Mädchen durch einen Winter in einer westlichen Großstadt. "Das Mädchen mit dem Fingerhut“, der Buchtitel, erinnert an Hans Christian Andersens Märchen vom "kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Bei diesem Märchenklassiker müsse man die Perspektive nur ein ganz klein wenig wechseln, und dann erkenne man sofort, dass dieses Märchen über ein Mädchen, das alleingelassen im Winter erfriert, auch eine Sozialreportage sein könne, sagt Köhlmeier. Und ganz ähnlich sei das auch mit seiner Erzählung. "Meine Generation kennt so eine Situation eines alleingelassenen Kindes in unserer Gesellschaft nur aus Märchen wie `Hänsel und Gretel` oder `das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern`“, sagt der Autor, "und plötzlich sehen wir, dass die Märchen überhaupt nicht so weit von der Realität entfernt sind, im Gegenteil, dass Märchen Realität auf ihre Art beschreiben – wie die Realität der Kinder, die aus einem Aufnahmelager für Flüchtlinge verschwinden".

Köhlmeiers Mädchen ist nicht vorwurfsvoll, es weint nicht einmal, wenn es so allein durch die Stadt läuft, es sucht Wärme, Essen, dann ist es glücklich. Wie ein Märchenkind schaut uns das Mädchen mit großen Augen an, diese Augen stellen uns mit ihrem fragenden Blick auf die Probe. Köhlmeiers Erzählung ist auch eine Urgeschichte einer neuen Zeit. Sie sickert in den Grund ein, auf dem wir stehen. Am Ende wagt sich der Autor einmal kurz aus der Deckung, da spricht er in wenigen Zeilen den Leser direkt an, wenn er schreibt:

"Wenn es wahr ist, dass an Gottes rechter Seite sein Liebling steht, bei allem, was er tut, was er pflanzt und segnet, wenn das wahr ist, so höre die Schritte, die kleinen, die großen, das Trippeln und das Stampfen! Warte, bis sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnen! Und nun? Kannst du sie sehen? Kannst du die beiden sehen?“