Martin Mittelmeier über "DADA: Eine Jahrhundertgeschichte“

DADA – mit Unsinn auf Transzendenz hinweisen

"DADA heißt auch, dass Gläubigkeit und Religiosität nicht leicht zu haben sind“, sagt Martin Mittelmeier gegenüber domradio.de, "DADA hat sich immer gegen Verkleinerungen gewehrt und damit auf etwas Größeres, auch auf eine Transzendenz hingewiesen“.

Martin Mittelmeier / © Olivier Favre
Martin Mittelmeier / © Olivier Favre

In seinem Buch "DADA: Eine Jahrhundertgeschichte“ stellt uns Martin Mittelmeier die "Gründungsmannschaft“ der DADA Bewegung vor, die im Februar 1916 im Cafe Voltaire in Zürich DADA ins Leben rief. Da ist nicht nur der "magische Bischof“ Hugo Ball, sondern auch weniger bekannte Künstler wie Richard Huelsenbeck oder Johannes Baader. "In Berlin macht Johannes Baader während des ersten Weltkrieges dauernd irgendwelche Aktionen“, erzählt Mittelmeier, "er unterbricht zum Beispiel einen Gottesdienst und soll da gerufen haben: ´Jesus Christus ist eine Wurst´. Das stimmt aber gar nicht, eigentlich hat er gesagt: ´Euch ist Christus Wurst´. Denn dieser mörderische Weltkrieg hat doch auch damit zu tun, dass ihr eure Transzendenz verloren habt“.

Ein anderer Einflüsterer der Dadaisten war Theodor Däubler. Der ist begeistert vom Kölner Dom, den "steinernen Sehnsuchtshälsen“, wie er in einem Hymnus auf den Dom schreibt. Ein Besuch im Dom inspiriert ihn auch zu seiner Theorie, die Simultanität der Zeit produktiv zu nutzen. Mit Simultanität meint Däubler das Durcheinander der Zeit, die Überforderung des Einzelnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. "Plötzlich sieht sich der einzelne einer Welt gegenüber, die stärker und größer ist als er", sagt Mittelmeier, "und er weiß gar nicht mehr, komme ich mit ihr zurecht? Und das Angebot und die Zerrissenheit ist so groß: Heute Sozialist, morgen Anarchist, heute Katholik, morgen Atheist, was bin ich denn jetzt eigentlich?“ Däubler plädiert dafür, dieses Durcheinander auszuhalten und in Kunst zu verwandeln.

Martin Mittelmeier nennt sein DADA Buch eine "Jahrhundertgeschichte", weil er viele Parallelen mit der Zeit von heute sieht. Vor 100 Jahren war die sogenannte Neurasthenie eine Volkskrankheit, hervorgerufen durch die zunehmende Zersplitterung der Welt, die den einzelnen in der schrillen Luft der Großstädte überforderte – durchaus vergleichbar mit dem heutigen Burnout-Syndrom. "Die Großstadt sind wir inzwischen gewohnt“, erklärt Mittelmeier, "aber plötzlich kommt so etwas wie das Internet, wo wir auch Nähe und Distanz neu austarieren müssen. Plötzlich hat man das Gefühl, nicht mehr eingreifen zu können - in eine Welt, die doch eigentlich von uns gemacht sein sollte. Dieses Gefühl ist sehr aktuell“.