Hauke Hückstädt über "95 Anschläge - Thesen für die Zukunft"

"Ein Wurfpfeil auf die Gemütlichkeitsblase"

"Wir wollten in diesem Jahr ein Buch machen, das sich mit der Zukunft beschäftigt, weil wir das bange Gefühl hatten, dass wir kaum noch wagen, nach vorne zu schauen", sagt Hauke Hückstädt, "wir sind so unsicher geworden mit dem, was auf uns zukommt". Mit Friederike von Bünau hat der Leiter des Frankfurter Literaturhauses 95 Autoren aus allen Berufen und Generationen um ihre These für die Zukunft gebeten.

Hauke Hückstädt / © Stephan Jockel (privat)
Hauke Hückstädt / © Stephan Jockel ( privat )

"95 Anchläge - Thesen für die Zukunft", so heißt das Buch, das Hauke Hückstädt und Friederike von Bünau von der Kulturstiftung der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau herausgegeben haben. Martin Luther hat vor 500 Jahren seine 95 Thesen an die Kirchentür gehämmert, Thesen, die die Welt verändert haben, und wie sieht das heute aus? Wie lauten unsere Glaubenssätze? Das wollten von Bünau und Hückstädt wissen: "Manchmal habe ich sogar diese Frage zugespitzt und geschrieben: ´Wenn sie mit einer einzigen These die Zukunft ihrer Enkelkinder retten könnten, welche These wäre das?´ Es war uns wichtig, dass Studenten in dem Buch vertreten sind, Handwerker, Sportler, Theologen und Wissenschaftler".

Thesen sollen aufstören und wach machen

95 kurze, ganz unterschiedliche Texte sind dabei entstanden. Alle Berufsgruppen sind vertreten und mischen sich mit Texten von prominenten Autoren wie Frank Plasberg, Wolfgang Thierse oder Juli Zeh. Hauke Hückstädt: "Es gibt da zum Beispiel die These von Caroline Link, der Regisseurin, die ein neues Unterrichtsfach mit dem Thema ´Perspektivwechsel´ vorschlägt, damit nachwachsenden Generationen ermöglicht wird, zum größeren Verständnis der Welt ständig einen Perspektivwechsel nachvollziehen zu können. Edgar Selge, der Schauspieler, schreibt von der schöpferischen Passivität – oder die Schriftstellerin Rasha Khayat, die deutlich sagt: ´Schluss mit dem Selbstbetrug! Deutschland ist ein rassistisches Land!´". Rasha Khayat ist in Saudi Arabien aufgewachsen und begründet ihre These mit ihren Beobachtungen aus dem deutschen Alltag. Die Thesen der 95 Autoren in dem Buch bieten viel Stoff für Diskussionen. "Eine gute These ist für mich eine These, die mich irritiert, die mich aufstört, die mich nicht in den Sessel sinken und ´Ja´ sagen läßt", sagt Hückstädt, "sondern die mich wach macht und stört, wo ich sage, ´kann das denn sein?´".

Die alten Fragen neu formulieren

Auf dem Buchcover sieht man einen Laptop, daneben liegt ein Hammer. In den Laptop sind wüst und wild Nägel in die Tastatur eingeschlagen. "Wir sitzen ja auch, wenn wir in Wut geraten, wenn wir in Aufruhr sind, vor dem Laptop und tippen nicht, sondern hämmern in die Tasten", erklärt Hückstädt. "Dieses Bild wird hier mit einem guten Schuss Ironie aufgefangen, weil die Nägel auf dem Bild teilweise krumm sind und krumm neben der Tastatur liegen". Das Buch "95 Anschläge - Thesen für die Zukunft" liefert keine fertigen Antworten, im Gegenteil, es soll einen Weg markieren. Wichtig ist, dass wir an der politischen Diskussion teilnehmen, dass wir die Gestaltung der Welt nicht denen überlassen, die sie kaputt machen. "Wir sind nicht so abgebrüht, dass wir nicht sagen, es könne keine Debatten mehr geben, weil doch alles schon gesagt sei. Das kann es nicht sein. Jede Generation muss die alten Fragen für sich neu formulieren", betont Hückstädt. "Die Stärke des Buches liegt in der Sammlung. Vieles hat man vielleicht woanders schon gelesen, aber wir haben es zu einem bestimmten Zeitpunkt, der uns wichtig ist, zusammengeführt und glauben, dass es ein Wurfpfeil ist auf diese Gemütlichkeitsblase, in der wir uns alle eingerichtet haben".


Der Anschlag von Luthers 95 Thesen - 1878 gemalt von Julius Hübner (1806-1882) / © Harald Oppitz (KNA)
Der Anschlag von Luthers 95 Thesen - 1878 gemalt von Julius Hübner (1806-1882) / © Harald Oppitz ( KNA )