Friedrich Wilhelm Graf über die Austrittswellen der Kirchen

„Die Kirchen haben ein Sprachproblem“

"Wir erleben eine Erosion der alten Volkskirchen“, sagt Professor Friedrich Wilhelm Graf: „Kirchenbindungen haben sich gelockert, die stabilen kirchennahen Milieus gibt es nur noch selten“. Soeben haben die Kirchen die Austrittszahlen für 2014 veröffentlicht, die noch höher sind als im Vorjahr. Im domradio-Interview spricht der Theologieprofessor und Buchautor Graf über die Krise der Kirchen.

Friedrich Wilhelm Graf / © epd
Friedrich Wilhelm Graf / © epd

"Die Menschen leben heute selbstbestimmter“, sagt Graf: "Sie gehen in Sachen Religion ihren eigenen ganz individuellen Weg“. Den Kirchen attestiert er ein Sprachproblem. Es gelinge den Verantwortlichen nicht mehr, den lebensdienlichen Gehalt christlicher Symbole zu erläutern. "Es fehlt an Ansprechpartnern, die gute religiöse Dienstleistungen anbieten“, sagt Graf. Offenkundig hätten die Kirchen in der alten Bundesrepublik über Caritas und Diakonie immer mehr Sozialstaatsaufgaben an sich gezogen und so möglicherweise vergessen, ihre religiösen Kernkompetenzen zu pflegen. Neben der verquasten Sprache der Theologen kritisiert Graf einen selbstgerechten Moralismus der Funktionäre, die Bildungsferne der Gottesdienste, die Demokratievergessenheit und die immer noch oft weltfremde Selbstherrlichkeit der Würdenträger.

Aber Professor Graf sieht die Kirchen in der säkularen Welt Europas weiß Gott nicht als Auslaufmodell. Der Kirchenbesuch an Weihnachten boomt – und das sei weit mehr als ein verbürgerlichtes Weihnachtschristentum, sagt Graf. Es gebe ein großes religiöses Bedürfnis: "Alle Prognosen vom definitiven Tod des Christentums in der Moderne haben sich nicht bewahrheitet“, sagt der Theologieprofessor.