Vor 200 Jahren wurden in Preußen erstmals Juden als Staatsbürger anerkannt

Zwei Schritte vor, einer zurück

Von Gleichstellung der Juden wollte Friedrich der Große noch nichts wissen. Das wäre wahrscheinlich auch noch lange so geblieben, wenn nicht die blanke Not den preußischen Staat 1812 zum Umdenken gezwungen hätte. Juden wurden erstmals als Staatsbürger anerkannt.

Autor/in:
Jürgen Heilig
 (DR)

"So eine jüdische Familiengeschichte findet man kein zweites Mal", ist sich die Potsdamer Historikerin Irene Diekmann sicher. Pogrome, Vertreibungen und der Holocaust haben in den meisten Fällen die Spuren vernichtet. Doch bei den Lessers lassen sich die Wurzeln lückenlos bis ins Jahr 1691 zurückverfolgen. Aus der Familie entstammt etwa der Gartenarchitekt Ludwig Lesser (1869-1957), der die Berliner Volksparks und Gartenstädte wie Frohnau oder Bad Saarow schuf.



Zusammen mit einer Kollegin aus Rathenow, wo sich die Lessers Ende des 17. Jahrhunderts ansiedeln konnten, hat die stellvertretende Direktorin des Moses-Mendelssohn-Zentrums eine Wanderausstellung konzipiert. Sie wird erstmals ab Sonntag im Potsdamer Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte gezeigt. Anlass ist der 200. Jahrestag des sogenannten preußischen Emanzipationsediktes vom 11. März 1812. Mit dem königlichen Erlass bekamen etwa 90 Prozent der damals 30.000 brandenburgischen Juden erstmals das Staatsbürgerrecht und waren damit endlich den übrigen Einwohnern gleichgestellt. Damit fand für die meisten ein unwürdiger Status ein Ende.



Im 16. Jahrhundert waren Juden auch aus dem protestantischen Brandenburg vertrieben worden, erst später durften sich einige wenige dort wieder ansiedeln. Der Großteil lebte verarmt und lediglich "geduldet" in "Judengassen". Die wohlhabenderen Schutzjuden mussten jedes Jahr teuer dafür bezahlen, dass sie vor Verfolgung sicher waren. Auch die Lessers waren Schutzjuden und hießen zunächst nur Levin. Erst mit dem Staatsbürgerbrief 1812 bekamen Juden einen regulären Familiennamen. Für die Familiengeschichte und damit auch in der Potsdamer Ausstellung ist diese Urkunde das zentrale Dokument.



Keine wirkliche Gleichstellung

Eine wirkliche Gleichstellung mit den übrigen Bürgern war aber auch mit dem Edikt noch lange nicht verbunden. Auch blieb es später, als Preußen größer wurde, regional beschränkt. Ebenso war Juden noch jahrzehntelang der Zugang zu Staatsämtern und zur Offizierslaufbahn versperrt. "Das Edikt war ein Kompromiss", stellt Diekmann fest. Die damals schon seit Jahrzehnten diskutierte Gleichstellung sei auch nur der letzte Teil der preußischen Staatsreformen gewesen, die nach der Niederlage gegen Napoleon 1806 in Angriff genommen wurden: "Ein Land, das die Fremdherrschaft abschütteln wollte, konnte es sich nicht erlauben, Teile seiner Bevölkerung in mittelalterlichen Verhältnissen leben zu lassen." Für den Wiederaufbau waren alle Hände nötig.



Mit seinem Edikt war Preußen innerhalb Deutschlands auch keineswegs Vorreiter, selbst wenn sich etwa Württemberg, Sachsen und Hannover mit ähnlichen Regelungen noch weitere Jahrzehnte Zeit ließen. Die rheinhessischen Juden hingegen waren bereits 1792 gleichgestellt worden. Ein Jahr zuvor war dies bereits in Frankreich im Zuge der Revolution vollzogen worden - erstmals in Europa. Unter dem Druck Napoleons folgten später 1808 Baden und der damalige französische Satellitenstaat Westfalen.



Für den Darmstädter Historiker Friedrich Battenberg ist das preußische Edikt dennoch ein "Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Judentums". Denn im Gegensatz zu manchen süddeutschen Staaten und norddeutschen Hansestädten hatte es über das "Waterloo" Napoleons und der nachfolgenden deutschen Restauration weithin Bestand.



"Antisemiten-Petition"

Erst 1871 erlangte mit Gründung des Deutschen Reiches die Gleichstellung der Juden überall Gesetzeskraft. Gleichwohl rührte sich ausgerechnet in Berlin nur ein Jahrzehnt später heftiger Protest dagegen. Rund 250.000 Bewohner der Hauptstadt unterzeichneten die "Antisemiten-Petition" gegen die rechtliche und soziale Gleichstellung von Juden.



Sie war aber nicht mehr zurückzudrehen. Auch Juden, die sich nicht assimilierten, errangen hohe Positionen in Politik, Wissenschaft und Kultur. Bei den Lessers war das nicht anders, Ludwig Lesser etwa stand ab 1923 zehn Jahre lang der Deutschen Gartenbaugesellschaft vor. Die Nazis entzogen ihm dann allerdings das Amt, ihm blieb nur die Flucht ins Exil. Nach dem Krieg trug die Gesellschaft zwar Bundeskanzler Konrad Adenauer, einem passionierten Rosenzüchter, die Ehrenmitgliedschaft an, nicht aber Ludwig Lesser.