Erzbischof Thissen zur Misereor-Fastenaktion 2012

Kinder in Slums für das Leben stärken

Über eine Milliarde Menschen leben weltweit in den Slums der Großstädte. Betroffen davon sind auch rund 400 Millionen Kinder und Jugendliche. Auf deren Situation will die diesjährige Fastenaktion des katholischen Hilfswerks Misereor unter dem Motto "Menschenwürdig leben. Kindern Zukunft geben!" aufmerksam machen. Der "Misereor-Beauftragte" der Deutschen Bischofskonferenz, der Hamburger Erzbischof Werner Thissen, stellt Ziele und Kernpunkte vor.

 (DR)

KNA: Herr Erzbischof Thissen, warum stehen diesmal gerade Kinder und Jugendliche im Vordergrund der Misereor-Fastenaktion?

Thissen: In der globalisierten Welt hängen Reichtum und Armut in Nord und Süd zusammen. Weltweite Wirtschaftskrisen und Rezession treffen vor allem die Armen und ihre Kinder, die damit vielfach um ihre Kindheit und Zukunft betrogen werden. Aber sie entwickeln Stärke und Kreativität, wenn sie darin unterstützt werden, ihr Leben zu meistern und sich Perspektiven zu erarbeiten - ganz wie es die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vorsieht. In diesem Sinne will Misereor auf die prekäre Situation dieser Kinder und Jugendlichen aufmerksam machen.



KNA: Verursacht wird die prekäre Situation der Menschen im Süden noch immer auch von Hunger und Unterernährung. In Afrika mehren sich nach der Dürrekatastrophe im vergangenen Jahr derzeit Anzeichen für eine Hungersnot in Westafrika. Hat die internationale Gemeinschaft solche Entwicklungen ausreichend im Blick?

Thissen: Internationale wie nationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen überwachen die Ernteergebnisse unter anderem in den Sahelländern in Westafrika. Schon im Oktober 2011 ergaben erste Einschätzungen, dass die Ernte defizitär ausfallen würde. Misereor fordert, jetzt präventiv einzugreifen, um gravierende Folgen der Dürre zu verhindern. In der betroffenen Region ist die Zusammenarbeit zwischen den Sahelstaaten entscheidend, um Getreide aus Nachbarländern oder Regionen mit guten Ernten dorthin zu bringen, wo Nahrungsmittel knapp werden. Auch die Viehmärkte müssen stabilisiert werden. Staatliche Subventionen oder Interventionspreise können - auch mit Unterstützung internationaler Geber - verhindern, dass Kleinbauern ihr Vieh zu Schleuderpreisen verkaufen müssen.



KNA: Andererseits sagen Experten, dass zu frühe Warnungen vor Hungersnöten zu Spekulationen an den Märkten und damit zu überhöhten Getreidepreisen führen, unter denen wiederum die Armen zu leiden haben. Stimmt da etwas grundsätzlich nicht mit unserem (Wirtschafts-)System?

Thissen: Frühzeitige Informationen zu erwarteten Erntemengen oder absehbaren Versorgungsengpässen sind äußerst wichtig. Mit ihrer Hilfe können Regierungen, die internationale Gemeinschaft und lokale Akteure Vorsorgemaßnahmen treffen und Hungerkatastrophen vermeiden.



Warenterminmärkte hatten ursprünglich die wichtige Funktion, dass Produzenten sich gegen schwankende Preise absichern konnten. Heute verzerren jedoch rein spekulative Fonds die Preise von Rohstoffen und führen zu starken Preisschwankungen. Besonders sensible Produkte wie etwa Weizen und Mais sollten nicht in Fonds gehandelt werden, denn dies führt zu einer Gefährdung der Nahrungsversorgung armer Menschen.



KNA: Wie sieht die Hilfe von Misereor konkret für die Kinder und Jugendlichen aus?

Thissen: Misereor setzt sich mit seinen Partnern dafür ein, dass Kinder und Jugendliche in einem menschenwürdigen Umfeld aufwachsen, vor Gewalt, sexuellem Missbrauch und wirtschaftlicher Ausbeutung in Familie und Öffentlichkeit, durch Unternehmen und staatliche Institutionen geschützt werden. Ein Beispiel ist etwa das "Rescue Dada Centre", das die Erzdiözese Nairobi in den Armenvierteln der kenianischen Hauptstadt unterhält. Der Name, eine Mischung aus Englisch und Kisuaheli, bedeutet: "Rette die Schwester" Es ist ein Zufluchtsort für traumatisierte, vernachlässigte, misshandelte Kinder. Mit Konflikttrainings und Maßnahmen zur Gewaltprävention sollen die Mädchen vor Gewalt und Missbrauch geschützt und für ein selbstbestimmtes Leben gestärkt werden.



KNA: Ein Tropfen auf den heißen Stein?

Thissen: Vielleicht, aber immerhin vermittelt das Rescue Dada Centre Perspektiven - doch um den Teufelskreis aus Armut, Gewalt und Missachtung zu durchbrechen, braucht es eine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen in den Armenvierteln. Man kann das Leitwort der Fastenaktion 2012 auch so zuspitzen: Nur Erwachsene, die in menschenwürdigen Verhältnissen leben, sind in der Lage, Kindern Zukunft zu geben.



KNA: Wie wichtig ist für die Kirche in Deutschland die Arbeit von Misereor?

Thissen: Die Arbeit von Misereor ruft uns immer wieder ins Gedächtnis, dass wir in einer Weltkirche leben und in der Einen Welt. Nächstenliebe hat eine globale Dimension. Gemeinsam setzen wir uns für eine gerechte und friedliche Welt ein. Glaube und Einsatz gehören zusammen, denn nach der Bibel ist Glauben ohne Werke tot. Deshalb ist die Kirche nur lebendig, wenn sie engagiert auf der Seite der Armen steht - hier bei uns in Deutschland und weltweit.



KNA: Welche Rolle spielt Misereor auch im Hinblick auf die deutsche Politik?

Thissen: Misereor wurde von den deutschen Bischöfen als Aktion zur unmittelbaren Nothilfe gegründet. Aber zu seinem Auftrag zählt auch, den Mächtigen ins Gewissen zu reden. Denn oft kommt die Not nicht durch Naturkatastrophen, sondern hat strukturelle Ursachen, entsteht durch Misswirtschaft oder politische Fehlentscheidungen. Das gilt übrigens auch in Deutschland! Denn wir haben uns schon in den 70er Jahren verpflichtet, mehr Geld für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen: 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts - eigentlich ein Klacks. Doch dies konnte seitdem noch von keiner Regierung realisiert worden. Ähnlich mit dem Versprechen der Staats- und Regierungschefs auf dem Millenniumsgipfel 2000: Bis 2015 sollen Armut und Hunger in der Welt halbiert sein. Schon jetzt ist klar:

Das schaffen wir nicht. Und deshalb bleibt die politische Arbeit von MISEREOR so wichtig.



Das Interview führte Sabine Kleyboldt.