Von Ronald Gerste (KNA)
Washington (KNA) Plötzlich ist Newt Gingrich obenauf. Der frühere Sprecher des US-Repräsentantenhauses galt als Politiker von gestern und seine Präsidentschaftskandidatur als eine Art Scherz, nachdem sich vor einigen Monaten zahlreiche enge Mitarbeiter plötzlich von der Kampagne um die Nominierung bei der Republikanischen Partei verabschiedet hatten. Doch selbst Außenseiter pflegen eine Chance zu haben, wenn die Konkurrenz so erbärmlich schwach ist wie Gingrichs innerparteiliche Rivalen.
Nachdem die Spitzenreiter in den Umfragen fast wöchentlich wechselten und zunächst die Tea-Party-Favortin Michele Bachmann und dann der Gouverneur von Texas Rick Perry allzu deutliche Zweifel an ihrer Kompetenz aufkommen ließen, ging jetzt ein kurzzeitiger Liebling des konservativen Publikums von Bord. Der ehemalige Chef einer Pizzakette Herman Cain warf am Wochenende das Handtuch, nachdem sich zu den Vorwürfen sexueller Belästigung auch Hinweise auf eine sich über 13 Jahre hinziehende außereheliche Affäre gesellt hatten.
Nun ist also Gingrich Spitzenreiter in den Umfragen, und dem Politprofi ist zuzutrauen, dass er dies auch einige Zeit bleibt. Die Republikanische Partei indes spricht wesentlich stärker als die Demokraten - bei denen Präsident Barack Obama erneut antritt und sich keinen Vorwahlreigen wie die sechs verbliebenen republikanischen Kandidaten antun muss - ein deutlich christlich geprägtes Wählersegment an. Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen hatten die Republikaner ihren größten Rückhalt in katholischen und evangelikalen Wählergruppen.
Der 68-jährige Historiker Gingrich hat einen Doktortitel in europäischer Geschichte - der manchem antiintellektuellen Tea-Party-Aktivisten suspekt sein dürfte. Und er war Angehöriger der Southern Baptist Church, bis er unter dem Einfluss seiner Gattin Calista 2005 den Petersdom in Rom besuchte. Wie Gingrich mehrfach in den Medien berichtete, war der USA-Besuch von Papst Benedikt XVI.
2008 ein "Wendepunkt" für den Politiker: "Ich war in den Bann geschlagen von dem Frieden und der Fröhlichkeit im Glauben, die der Heilige Vater ausstrahlte." Seine Gegenwart sei für Gingrich "ein Moment der Bestätigung vieler Dinge gewesen, über die ich seit Jahren nachgedacht habe und die mich bewegten". Im März 2009 trat Gingrich zum Katholizismus über. "Nach einer jahrzehntelangen, vielleicht lebenslangen Reise in Glaubensfragen" sei er "endlich heimgekommen".
Jetzt, da Gingrich im Zentrum medialer Durchleuchtung und der kritischen Betrachtung durch potentielle Wähler steht, wird sich zeigen, ob er den Maßstäben seiner christlichen Wählerschaft genügt.
Denn in einem Land, in dem das Privatleben eines Präsidentschaftskandidaten zu einer "Charakterfrage" im Wahlkampf wird, ist Gingrich auf eine urchristliche Regung angewiesen: die des Verständnisses und der Vergebung. Sein Weg zum Glauben war nicht ganz ohne Umwege. Gattin Calista ist seine dritte Ehefrau. Ein Detail, dass inzwischen weithin bekannt ist: Er hatte mit ihr bereits ein Verhältnis, als er noch mit seiner zweiten Gattin verheiratet war.
Sowohl Bill Clinton - wegen der Affäre mit Monica Lewinsky - als auch George W. Bush - wegen seiner Neigung zum Alkohol in jüngeren Jahren - haben öffentlich um Gottes Gnade und um Vergebung der Wähler ersucht. Gingrich, zu dessen selbstbewusstem Wesen ein "mea culpa" vor laufenden Kameras schwer passen würde, hat nun ein wenig verklausuliert erklärt, die Kehrtwende in seinem Leben sei erfolgt, nachdem er anderen Schmerz zugefügt habe. Er gehe zu Gott, um Versöhnung und Gnade zu finden.
Eine republikanische Wahlkampfberaterin, die Katholikin Mary Matalin, erklärte der "Washington Post", dass für Katholiken Vergebung zu den allerwichtigsten Pflichten gehöre. Angesichts der moralistischen Unnachgiebigkeit, die in den USA oft in politischen Auseinandersetzungen herrscht, klingt die Hoffnung auf Vergebung oder zumindest Vergessen durch die Wähler fast wie das Rufen in dunkler Waldesnacht.
Republikaner-Favorit Gingrich: Neu-Katholik mit Vergangenheit
Ein Plädoyer für Vergebung im US-Wahlkampf
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