Mehr Hilfen für erwachsene Analphabeten gefordert

Panik vor dem Lesen und Schreiben

Tim-Thilo Fellmer bekam jedesmal Panik, wenn der Supermarkt umgeräumt worden war oder er während der Ausbildung Frühstückswünsche von Kollegen in einer Liste notieren sollte. Er konnte einfach nicht gut genug lesen und schreiben, um im Alltag zurechtzukommen. Zum Weltalphabetisierungstag fordern Bildungsexperten mehr Unterstützung für Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können.

 (DR)

"Bei der Arbeit versuchte ich, mir mit aufgemalten Symbolen und auswendig gelernten Spickzetteln alles zu merken", erzählt der Frankfurter. Mit Mitte 20 war der Leidensdruck so groß, dass Fellmer sich bei einem Lese- und Schreibkurs anmeldete, dem ersten von vielen.



Heute arbeitet Fellmer als Kinderbuchautor

Heute ist der 43-Jährige Kinderbuchautor ("Fuffi, der Wusel"), unterstützt Internet-Lernportale wie Legakids.net für Schüler mit Lese-, Rechtschreib- und Rechenschwächen und arbeitet als Botschafter des Bundesverbandes Alphabetisierung. Der gemeinnützige Verband mit Sitz in Münster macht alljährlich zum Weltalphabetisierungstag der UN-Kulturorganisation ESCO am 8. September auf die Probleme sogenannter funktionaler Analphabeten aufmerksam, die keine zusammenhängenden, kürzeren Texte lesen oder schreiben können - obwohl sie zur Schule gegangen sind.



Laut einer neuen Studie des Bildungsbildungsministeriums gibt es in Deutschland 7,5 Millionen funktionale Analphabeten im Alter zwischen 18 und 64 Jahren. Die bundesweit ersten offiziellen Zahlen liegen damit fast doppelt so hoch wie bislang geschätzt. "Nehmen wir die Gruppe der bis 80-Jährigen noch hinzu, können wir sogar von weiteren zwei Millionen ausgehen", sagt die Autorin der Studie, Anke Grotlüschen von der Universität Hamburg. Nach der PISA-Studie habe man sich in Deutschland nur auf die Verbesserung der Schulleistung von Kindern konzentriert und die Defizite von Erwachsenen vernachlässigt, kritisiert sie.



"Ich fühlte mich zu dumm"

Die Gründe dafür, dass Erwachsene große Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, sind unterschiedlich. Bei Tim-Thilo Fellmer etwa wurde schon in der zweiten Klasse Legasthenie festgestellt. "Ich fühlte mich überfordert und zu dumm, meine Schwäche kompensierte ich, indem ich den Klassenclown oder Rüpel gab und den Unterricht boykottierte."



Von den Lehrern bekam er wenig Hilfe, da ihnen oftmals selbst die Hände gebunden waren, wie Fellmer heute sagt. "Sie schleppten mich elf Jahre lang mit durchs System bis zum Hauptschulabschluss". Er sieht das Bildungssystem in der Pflicht: "Kleinere Klassen machen für Lehrer eine individuelle Förderung überhaupt erst möglich, man darf Kinder nicht durchs Raster fallenlassen."



Problem liegt in der Tabuisierung

Nach Ansicht der Hamburger Professorin Grotlüschen liegt das größte Problem in der Tabuisierung. "Niemand will sich eingestehen, ein Analphabet zu sein", sagt sie. "Dabei hat das nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun." Anstatt Betroffene zu stigmatisieren, sollte ihnen unvoreingenommen Hilfe angeboten werden. Das Hamburger Grundbildungszentrum der Volkshochschule etwa sei mit offenen Lese- und Schreibkursen in Betrieben sehr erfolgreich. Auch das interaktive Internet-Portal "ich-will-lernen.de" biete niedrigschwellige Hilfe.



Der Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung, Peter Hubertus, fordert eine breite bildungspolitische Debatte. "Die UN-Dekade zur Halbierung der Analphabetenrate bei Erwachsenen geht

2012 zu Ende, aber bislang hat sich wenig getan", kritisiert er.



Forderung nach Unterstützung durch Arbeitsagentur

Die Volkshochschulen bräuchten mehr Geld, um ihr Kursangebot für Analphabeten auszuweiten. Außerdem sollte die Bundesagentur für Arbeit die gesetzlichen Möglichkeiten erhalten, eine Grundbildung für erwerbslose Analphabeten anzubieten. Bislang dürften die Arbeitsagenturen nur berufliche Fortbildungen organisieren. "Aber wer nur mangelhaft lesen oder schreiben kann, hat keine Chance auf dem Arbeitsmarkt".



Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat bereits einen Grundbildungspakt für Alphabetisierung angekündigt. Ein zwischen dem Bund und der Kultusministerkonferenz der Länder abgestimmtes Eckpunktepapier solle bis Oktober erarbeitet und unterzeichnet werden, sagte Ministeriumssprecher Benedikt Wolbeck.



Persönliches Umfeld ist gefragt

Wichtig sei aber auch das persönliche Umfeld der Betroffenen, mahnt Expertin Grotlüschen. "Jeder Analphabet hat mindestens einen Mitwisser." Kinder erledigten oft für die schreibunkundige Mutter den Schreibkram und bei Kollegen seien Analphabeten sehr beliebt, weil sie sehr pflichtbewusst seien. "Aber sie zu decken, hilft ihnen nicht, sie müssen zum Lernen motiviert werden."



Bei Tim-Thilo Fellmer war es seine damalige Lebensgefährtin, die ihn ermutigte, einen Volkshochschulkurs zu machen. "Ich habe lange versucht, mich durchzumogeln", sagt der Autor. "Erst durch das Erlernen der Schriftsprache habe ich wieder an mich geglaubt." Er sei unabhängig geworden und habe seine Talente entfaltet.