Wie einst Johanna, die Kleine aus der lothringischen Provinz und spätere "Jungfrau von Orleans", steht sie da und kann nicht anders. Es ist eine harte Zeit für die Schafhirtin Bernadette Soubirous aus Lourdes. Eh schon verachtet wegen ihrer Armut, ihres Unwissens und ihrer Kränklichkeit, muss die 14-Jährige jetzt auch noch all diese Verhöre über sich ergehen lassen. Die Mutter, die Lehrerin, der Pfarrer, der Bürgermeister, die Journalisten - und nun der Bischof.
Bernadette berichtet, was bis heute eine der wirkungsvollsten Erscheinungen der Religionsgeschichte geblieben ist: von der «schönen weißen Dame», die sie zwischen dem 11. Februar und dem 16. Juli 1858 insgesamt 18 Mal in der Grotte von Massabielle bei Lourdes gesehen habe. Vom Entspringen einer klaren Quelle und dem Auftrag, eine Kapelle errichten und Wallfahrten abhalten zu lassen. Und davon, was den Bischof von Tarbes vielleicht am meisten verblüfft:
Zuletzt habe sich die Dame in Bernadettes Pyrenäen-Dialekt als die «Immaculada Concepciou» zu erkennen gegeben. Das entsprechende Papst-Dogma von der «Unbefleckten Empfängnis Mariens» war doch erst vor vier Jahren 1854 verkündet worden. Wie kann diese Hilfsschülerin, über die die unterrichtende Ordensschwester so wenig Gutes zu sagen hat, davon etwas wissen?
Während die durch das «Wunder von Lourdes» ausgelöste spektakuläre Entwicklung erst am Anfang ist, endet die Lebensgeschichte Bernadettes eher unspektakulär: Die einst Gehänselte, selbst immer wieder schwer krank, tritt in den Krankenpflege-Orden der «Dames de Nevers» ein. Dort stirbt sie am 16. April 1879, nur 35-jährig - nicht geliebt, wenn man den Chronisten glaubt, aber beneidet immerhin um ihre Erscheinungen. 1925 wird Bernadette von Papst Pius XI. selig-, 1933 heiliggesprochen.
Zu dieser Zeit hat sich der «Fall Soubirous» längst
verselbstständigt: 1862 werden die Erscheinungen von Bischof Laurence von Tarbes, 1891 von Papst Leo XIII. kirchlich anerkannt. Marienerscheinungen werden seit dem 18. Jahrhundert zu den «Privatoffenbarungen» gezählt. Als solche werfen sie schwerwiegende theologische Probleme auf, da Gottes Offenbarung nach klassischer Lehre mit dem Tod des letzten Apostels an ihr Ende gekommen ist. Das kirchliche Lehramt zieht daher eine scharfe Trennlinie zwischen Offenbarung und Privatoffenbarungen. Letztere können nach katholischer Lehre die ursprüngliche Offenbarung lediglich in Erinnerung rufen, erklären oder aktualisieren. Auch steht es laut Weltkatechismus jedem Katholiken frei, an solche Privatoffenbarungen zu glauben oder eben nicht - auch wenn die Kirche sie als gesichert ansieht. Das gilt auch für Lourdes.
Bereits kurz nach den Erscheinungen der Bernadette werden von dort immer mehr angebliche Wunderheilungen gemeldet. Seit 1858 sind mehr als 30.000 unerklärliche Fälle aktenkundig. Rund 2.000 wurden als «medizinisch unerklärlich» eingestuft, ganze 67 schließlich von der Kirche als Wunder anerkannt. Vielfältig sind die Krankheitsbilder:
Krebs im Endstadium, zerfressene Knochen, die binnen Monatsfrist nachgewachsen seien. Die Dossiers, die Röntgenbilder sind für jeden Arzt frei zugänglich. Die Wunder-Kriterien von Lourdes sind streng: Schwer und lebensbedrohend muss die Krankheit sein, plötzlich, umfassend und nachhaltig die Heilung.
Jahr für Jahr kommen viele hunderttausend kranke und behinderte Menschen dorthin. Können sie auf das «Lourdes-Wasser» aus der Grotte von Massabielle hoffen, von dem täglich etwa 120.000 Liter fließen?
Nein, Lourdeswasser heilt nicht, sagt Pater Wolfgang Boemer, früher deutscher Koordinator beim Heiligtum des südfranzösischen Wallfahrtsortes. Es handele sich um «ganz normales Bergwasser». Auch Maria heile nicht. Gott sei es, der hier heilt, stellt der Geistliche klar. Und es stehe ganz in seiner Verfügung, wie viele, wen, wann und wie er heile.
Klar ist: Die «Wunder» von Lourdes stellen den Absolutheitsanspruch der Naturwissenschaften in Frage - und der Schulmedizin, die sich nach wie vor schwer tut, die seelische und spirituelle Dimension eines Genesungsprozesses stärker zu berücksichtigen. Lourdes schreibt bis heute unglaubliche Geschichten - seit der heiligen Bernadette hier etwas Unglaubliches widerfuhr.