Studie über sexuelle Verrohung Jugendlicher löst Debatte aus

"Ruck, zuck, passiert"

Die Autoren, Pastor Bernd Siggelkow und Wolfgang Büscher vom evangelischen Jugendwerk "Arche", verstehen ihr Buch "Deutschlands sexuelle Tragödie" als Alarmruf angesichts einer ausufernden Pornographisierung der deutschen Jugend. Und der Ruf wurde erhört: Der Deutsche Philologenverband und der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Hermann Kues fordern Gesetzesänderungen. Die katholische Jugend warnt dagegen vor Verallgemeinerungen.

Autor/in:
Christoph Strack
 (DR)

«Leon ist stolz auf sein bewegtes Sexualleben, das merkt man ihm an. Mit mehr als 300 Frauen habe er was gehabt, behauptet er...» Leon ist 19 und einer von 30 Heranwachsenden, deren Schicksal das Buch «Deutschlands sexuelle Tragödie» schildert. Mit zwölf fing er an, das Mädchen war elf und gleichfalls im Heim, «sie zogen sich ihre Klamotten aus, und ruck, zuck war es passiert».

«Arche»-Chef Siggelkow und sein Pressesprecher legten vor einem Jahr das Buch «Deutschlands vergessene Kinder» vor, das in Zeiten wachsender sozialer Klüfte regelrecht einschlug und die Einrichtung bundesweit bekannt machte. Heute gibt es dazu das Hörbuch und den Soundtrack. Man weiß, dass in den sozialen Brennpunkten deutscher Großstädte Kinder von der Suppenküche leben.

Nun legt das Autorenduo nach: Es gehe um «Sexualität, wo Liebe, Beziehung, Kondome keine Rolle spielen», sagt der Pastor. «Wenn unsere Kinder zu früh erwachsen werden, setzen sie sich natürlich auch mit erwachsenen Problemen auseinander.» Die Verschärfung der Situation machen die beiden am Wegfall einer Hürde fest, an der Einführung der Flatrate fürs Internet.

«Hier sind verletzliche Seelen, die wir schützen müssen», sagt der Pfarrer. Die Kinder, die in den Beiträgen beschrieben und zitiert werden, berichten vom ersten Sex mit elf oder zwölf Jahren, vom Porno-Schauen mit der alleinerziehenden Mutter, auch von Porno-Produktionen - und noch manches, ja eigentlich alles, was man sich gar nicht ausmalen mag. Die porträtierenden Texte dominieren. Einordnungen der Autoren bleiben knapp, konkrete Zahlen fehlen.

«Eigentlich sollte es für dieses Buch eine Altersfreigabe geben», meint Siggelkow. Man weiß nicht, ob er es ironisch meint. Während der vergangenen Tage ließen Boulevardzeitungen den anonymisierten Texten des Buches schon konkrete Beispiele mit Fotos folgen.

Das Buch trifft eine Stimmung. Man kennt das: Unabhängig vom Milieu können die meisten Eltern eher staunend-verunsichert als zornig beschreiben, wie sorgsam gehütete Kinder nach wenigen Tagen im Kindergarten verbotene Worte drauf haben, was ihre Kinder durch das Internet alles kennenlernen. Wer sich mit dem Thema befasst, kennt die Nöte der Eltern und die neue Sehnsucht nach Beschränkung.

«Man ist in der Gefahr, selbst einen Porno zu schreiben, den dann bestimmte Menschen gerne lesen, oder dass man etwas Bigottes, Lebensfremdes formuliert», erläutert «Stern»-Autor Walter Wüllenweber bei der Buchvorstellung. Er betont, das, was viele Kinder erlebten, habe mit freier Liebe nichts zu tun. Viele Jugendliche könnten mit dem, was sie da sexuell erlebten, überhaupt nicht klar kommen. Die Sexualisierung Heranwachsender sei ein «riesengroßes Problem».

Siggelkow, selbst auf Sankt Pauli aufgewachsen, spricht von der Perspektivlosigkeit und der Zersplitterung von Beziehungen. Die Kinder, meint er, «sind die Opfer eines Systems, mit dem wir uns alle abgefunden haben».

Der Pfarrer benennt konkrete Forderungen: So sollte die Politik die Nutzungsmöglichkeiten des Internets oder Handys durch verbindliche Vorgaben des Jugendschutzes einschränken. Sie sollte wissenschaftliche Studien anstoßen, deutschland- und europaweit. Der «Arche»-Leiter warnt vor Sexualkundeunterricht, der einseitig biologisch ausgerichtet sei und ethische Fragen ausblende. Und er beklagt - um ein Beispiel für die Sexualisierung der Gesellschaft zu nennen -, dass Kinos selbst nachmittags vor Sechsjährigen Kondomwerbung mit eindeutigen Szenen ins Vorprogramm nähmen.

Die bislang letzte Nummer, so lässt das Buch den 19-jährigen Leon erzählen, schob der Junge mit der Mutter eines Kumpels, am Rande einer Party. «Die Frau sagte ihm anschließend, dass sie schon mit einigen Freunden ihres Sohnes geschlafen habe und lobte ihn für seine besondere 'Leistung' im Bett.»

Breite Debatte losgetreten
Die Studie hat eine breite Debatte über Medien und Jugendschutz ausgelöst. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, Hermann Kues (CDU)forderte ein striktes strafrechtliches Vorgehen gegen jugendgefährdende Pornografie. Die Vorgehensweise dieser «Geschäftemacher» müsse «gnadenlos gebrandmarkt» werden, sagte Kues der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Der Deutsche Philologenverband hielt der Politik Untätigkeit vor. Die Internet- und Handydarstellungen überforderten die Jungen und Mädchen, sagte Vorsitzender Peter Meidinger im KNA-Interview. Politiker scheuten das Thema aus «Angst, sich dem Vorwurf der Prüderie, Zensur oder Illiberalität auszusetzen.» Es gebe zwar kein Patentrezept, doch könne die Politik auf Werbeträger und Server-Betreiber Einfluss nehmen und beispielsweise Filter und Zugangsberechtigungen verpflichtend machen.

Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) hält die Ergebnisse der Studie für schockiernd, warnt aber vor Verallgemeinerungen. Es gebe eine große Sehnsucht nach Treue und Verlässlichkeit, sagte Präses Andreas Mauritz der KNA in Düsseldorf. Gesetze und technische Vorkehrungen müssten verhindern, dass Heranwachsende weiterhin so leicht auf pornografische Inhalte im Internet zugreifen können.

Der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS), Pater Franz-Ulrich Otto, sieht keine Tendenz zu einer sexuellen Verrohung Minderjähriger. Eltern, Lehrer und Erzieher müssten Jugendliche befähigten, das Internet kritisch zu sehen.