DOMRADIO.DE: Herr Dr. Szelest, Mitte Dezember haben Sie sich von Bonn aus in die Ukraine aufgemacht – bereits zum zwölften Mal seit Kriegsbeginn. Ziel sollte Cherson, die Partnerstadt von Bonn, sein. Doch soweit kamen Sie gar nicht. Ihr Ansprechpartner, der dortige Caritasdirektor Igor Makar, fing Sie bereits an der polnisch-ukrainischen Grenze ab und warnte davor, bis in die südukrainische Hafenstadt weiterzufahren, weil die Zufahrtsstraßen komplett vermint sind. Sie haben sich dann in Lwiw getroffen. Wie haben Sie die Menschen dort bei Ihrer Ankunft erlebt?
Dr. Zenon Szelest (Diakon in den Bonner Innenstadtgemeinden): Drohnenangriffe und Artilleriefeuer beeinträchtigen nun schon seit fast vier Jahren das Leben der Zivilbevölkerung – und das täglich. Auf der Fahrt durch die Ukraine bietet sich ein Bild absoluter Trostlosigkeit – zumal jetzt im Winter: Wohnhäuser sind zerstört, nur notdürftig funktionieren die kommunalen Versorgungsnetze und die medizinische Infrastruktur. Die Strom- und Wasserversorgung ist mangelhaft. Igor Makar ist Priester der griechisch-katholischen Gemeinde in Cherson. Er berichtete, dass die Region Cherson weiterhin unter Beschuss ist und täglich zivile Objekte angegriffen werden. Derzeit sei das dortige Wärmekraftwerk außer Betrieb; damit seien rund 40.000 Haushalte ohne Heizung. Bei der Einfahrt nach Cherson bestehe Lebensgefahr.
In der Tat sind überall die Straßen aufgrund der großen Anzahl von FPV-Drohnen mit Anti-Drohnen-Netzen abgedeckt. Die neueste, bestialische Methode der Russen besteht darin, kleine, ferngesteuerte Drohnen als harmlos anmutende, bunte Luftballons zu tarnen. Angesichts dieser ständigen Bedrohung trotzdem eine Art Alltag zu gestalten, bedeutet für die Bevölkerung enormen Stress. Die Menschen wirken auf mich einerseits abgestumpft, aber auch sehr verzweifelt und ohne große Hoffnung. Sie sind kriegsmüde. Erst, als ich die Türen meines Transporters öffnete, konnte ich zum ersten Mal ein vorübergehendes Leuchten in ihren Augen sehen. Das war sehr berührend!
DOMRADIO.DE: Für diese Reise hatten die Bonner Erzbischöflichen Schulen, das Collegium Josephinum, das Jugendpastorale Zentrum EKKO sowie das Haus Mondial Weihnachtspakete für die Menschen in der Ukraine gepackt. Kommt im vierten Kriegswinter bei den Menschen, die so viel verloren haben, überhaupt so etwas wie Weihnachtsstimmung auf?
Szelest: Jein. Weihnachten im eigentlichen Sinne können die Menschen in Cherson, Lwiw und den anderen Städten der Ukraine sicher nicht feiern. Was die Menschen wirklich brauchen, ist eine neue Alltagsstrategie, um zu überleben – Tag für Tag. Demnach geht es an Weihnachten mehr um Gemeinschaft, damit man sich austauschen, gegenseitig Mut machen und vielleicht auch ein Lied zusammen singen kann. Ich hatte auch viele Kerzen dabei und gehe davon aus, dass zu Weihnachten viele solcher Kerzen angezündet werden, um sich darum zu versammeln und gegenseitig Kraft zu schenken. Wichtig ist den Menschen in der Ukraine, dass sie spüren, im 1800 Kilometer entfernten Deutschland sind Menschen, die an sie denken, für sie beten. Auf diese Weise fühlen sie sich nicht allein gelassen. Das gibt ihnen ein Stück weit Lebensmut.
DOMRADIO.DE: Welchen Dienst leistet dabei die ukrainische Kirche? Und was bedeutet die Botschaft von Weihnachten in einem solchen Kontext des Grauens?
Szelest: Die Ukraine ist ein Land mit sechs verschiedenen christlichen Glaubensausrichtungen. Aber jetzt, zu Weihnachten, rücken diese verschiedenen Kirchen und Konfessionen näher zusammen, um sich gegenseitig zu stärken, aber auch, um Hoffnung zu verbreiten. Sie fragen sich: Was können wir für die Witwen und Waisen tun? Viele Frauen leben in ständiger Angst und Ungewissheit, ob ihre Männer, Brüder und Söhne, die das Land an der Front verteidigen, überhaupt noch am Leben sind. Oft müssen sie für ihre Kinder Vater und Mutter sein. Auf ihnen lastet eine unglaublich große Verantwortung.
Was die Frauen in der Ukraine leisten, ist unvorstellbar. Denn meist bleiben sie ohne die Unterstützung ihrer Männer mit den Kindern zurück und müssen selbst nach Möglichkeiten suchen, Geld zu verdienen, den Haushalt zu führen und Alltagsprobleme zu lösen. Durch die Zerstörung der Infrastruktur verlieren viele Familien den Zugang zu Dienstleistungen – von der medizinischen Behandlung bis zur Wärmeversorgung –, was eine zusätzliche Belastung für die Frauen darstellt. Hinzu kommt, dass sie oft nicht nur persönlich Ängste auszustehen haben, sondern zusätzlich den Druck verspüren, für ihre Kinder und ihre Familie während der Kriegswirren stark sein und die Beschützerrolle übernehmen zu müssen. Gleichzeitig engagieren sich viele Frauen ehrenamtlich, helfen ihren Nachbarn und organisieren humanitäre Hilfe – das gibt ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Stärke, nimmt ihnen jedoch nicht die Last des emotionalen Ausnahmezustandes, in dem sie sich ununterbrochen befinden. Und dann gibt es die vielen alten Menschen, die sich in einem Zustand der Apathie und Ausweglosigkeit befinden und denen jeglicher Antrieb zum Weitermachen fehlt.
Natürlich verkünden die Kirchen die Botschaft von Weihnachten und versuchen damit, den Menschen Halt zu geben. Und im Krieg hat die Botschaft von dem göttlichen Kind in der Krippe noch einmal mehr Bedeutung denn je. Wir alle warten doch sehnlichst auf diesen Friedensfürsten. Gleichzeitig teilt dieses Kind, geboren in einem armseligen Stall, das Schicksal der vielen Geflüchteten und heimatlos Gewordenen. Auch seine Eltern, Maria und Josef, erleben, was es heißt, verfolgt zu werden und auf der Flucht zu sein. Damit können sich die Menschen in der Ukraine identifizieren. Und damit verknüpfen sie vielleicht die einzige Hoffnung, die ihnen noch geblieben ist: die Zusage Gottes, dass er immer da ist. Selbst in diesem furchtbaren Krieg.
DOMRADIO.DE: Sie haben in die Ukraine Geschenke gebracht, aber auch großes Leid gesehen …
Szelest: Ich habe sehr bewusst auch einen Friedhof besucht. Der Anblick der vielen Fahnen auf den Gräbern war erschütternd, denn jede Fahne steht für einen Verstorbenen. Wenn ich gefragt werde, was ich zur Krippe trage, dann sind es die Menschen in der Ukraine: Die Kleinen, die noch nie eine Kita besuchen konnten; die Jugendlichen, die noch nie einen Klassenraum von innen gesehen haben und seit vier Jahren ausschließlich online lernen oder in U-Bahn-Stationen unterrichtet werden, was die soziale Interaktion erschwert. Aufgrund der anhaltenden Kampfhandlungen leiden viele Kinder unter Angst- und Schlafstörungen, Konzentrations- und Selbstwertproblemen sowie dem Verlust ihrer sozialen Kontakte. Ich trage die Eltern, die um ihre gefallenen Söhne weinen, zur Krippe; die heimkehrenden Soldaten ohne Beine oder Arme, die sich ein neues Leben aufbauen müssen und dafür Hilfsmittel benötigen. Und ich trage zur Krippe die behinderten, alleinstehenden oder alten Menschen, die nicht mehr leben wollen, und diejenigen, die sich an der Hoffnung festhalten, dass das kommende Jahr 2026 endlich den Frieden bringt.
DOMRADIO.DE: Trauen die Ukrainer den aktuellen Friedensverhandlungen, die von den USA und Europa ausgehen, denn überhaupt noch?
Szelest: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dennoch sind die Enttäuschung, Müdigkeit und Erschöpfung deutlich zu spüren. Der großen Politik vertrauen die Menschen nicht mehr. Sie wenden sich anderen Gruppen zu. Ihre Hoffnung aufrecht hält das Bemühen der europäischen Länder, die die Ukraine bisher mit viel Engagement unterstützt haben, und die vielen engagierten Herzen, wie die hier bei uns in der Bonner Stadtkirche, und überhaupt der Kirchen – vor allem auch der ukrainischen, die nicht nur spirituellen, sondern – sofern sie können – auch materiellen Beistand leisten.
Die Menschen in der Ukraine sprechen nicht wirklich über die Friedensverhandlungen. Worüber sie sprechen, ist, wie sie sich gegenseitig helfen und Mut machen können. Denn ein Leben unter ständigem Beschuss ist kaum vorstellbar, fordert aber seinen Tribut. Die permanente Angst um das eigene Leben und das Leben ihrer Kinder, Enkelkinder oder anderer lieber Angehörigen ist eine permanente Belastung.
DOMRADIO.DE: Auch im Jahr 2026 wollen Sie Ihre Initiative fortsetzen, indem Sie die Menschen in Cherson unterstützen. Wie kann man sich an dieser Hilfsaktion beteiligen?
Szelest: Auf vielfältige Weise. Denn der Bedarf an Unterstützung, psychologischer, sozialer und humanitärer Art, ist unermesslich groß, insbesondere für Kinder, ältere und behinderte Menschen. Daher steht mein nächster Reisetermin im März auch bereits schon wieder fest. Und dann will ich auch in jedem Fall bis Cherson kommen und Waschmaschinen und Trockner mitbringen, um den Menschen, die nichts mehr haben, dabei zu helfen, wenigstens ihren Alltag irgendwie zu bewältigen. Es fehlt an Medikamenten und Verbandsmaterial. Vor allem aber sammeln wir Spenden für einen kleinen Bus, um ihn den Psychologinnen und Psychotherapeutinnen in Cherson zur Verfügung zu stellen, die traumatisierten Frauen Gesprächsangebote machen, weil gerade die Frauen in einer großen Unsicherheit leben und dringend psychologische Betreuung benötigen. Das liegt mir sehr am Herzen. Denn selbst wenn viele Frauen dasselbe Schicksal teilen, fällt ihnen der Austausch darüber schwer. Denn im Gespräch mit den Frauen habe ich erlebt, wie schwer es ihnen fällt, über ihr Leid zu sprechen, und dass sie oft keinen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen haben. Sie benötigen psychologischen und auch seelsorglichen Beistand. Das eine ist vom anderen oft gar nicht zu trennen.
Diese Frauen brauchen Menschen mit einem offenen Herzen und einem offenen Ohr, die vor allem zuhören können. Schließlich geht es um den täglichen Kampf zu überleben. Man muss sich das vorstellen: Diese Menschen stehen morgens auf und fragen sich: Wie überlebe ich den heutigen Tag? Wie überleben meine Lieben? Wie können wir uns vor den Angriffen rechtzeitig in Sicherheit bringen? Wo kann ich heute Wasser kochen? Woher bekomme ich die nächste Mahlzeit? Wie kann ich meine Wohnung heizen? Von daher können wir jede Spende dringend gebrauchen!
DOMRADIO.DE: Wie geht es Ihnen persönlich nach dieser Reise in die Ukraine?
Szelest: Einen Tag nach meiner Reise habe ich im Bonner Münster bei einem Adventsgottesdienst Gott dafür gedankt, dass ich an einem sicheren Ort lebe. Unvergesslich aber bleiben mir die Augen der Menschen, denen ich begegnet bin, die Gespräche mit den Priestern in Lwiw und die Fragen, was wir im Westen tun, damit es denen, die den Krieg erleiden, besser geht. Sehr bewusst habe ich nichts von dem Zerstörungswerk fotografiert, das ich während der Fahrt gesehen habe. Dabei schreit einem die triste Trostlosigkeit dieses Landes förmlich entgegen. Tatsache ist, dass diese Bilder und Erfahrungen etwas mit einem machen.
Wie nach jeder Reise in die Ukraine brauche ich auch jetzt erst einmal wieder etwas Zeit, mich zu sammeln. Vor allem nehme ich aber den Auftrag mit, hier bei uns dafür zu werben, dass sich möglichst viele Bonner und Menschen über die Stadtgrenzen hinaus von dem Schicksal unserer Nachbarn in der Ukraine berühren lassen und mit ihrer Spende zur humanitären Hilfe einen persönlichen Beitrag leisten.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.