"Als die Polizei Pasolinis Todesstelle freigab, haben die Barackenbewohner mit Steinen ein Oval gebildet und damit diesen Ort geschmückt. Das war ihre Art, Anteilnahme am Tod Pasolinis zu zeigen." Peter Kammerer erinnert sich noch genau an jenen 2. November vor 50 Jahren, als die Nachricht vom gewaltsamen Tod des Schriftstellers, Filmemachers und Dichters Pier Paolo Pasolini (1922-1975) die Runde machte.
Kammerer (87), von Haus aus Ökonom, später Soziologie-Professor an der Universität Urbino, ist seit 1962 in Rom. Als Journalist und Übersetzer begegnete er dem exzentrischen Künstler Pasolini häufig, interviewte ihn mehrfach und übersetzte seine Gedichte.
Der offen homosexuell lebende Pasolini wurde am Morgen des Allerseelentags 1975 am Strand von Ostia nahe Rom ermordet aufgefunden. Ins Zentrum seiner Werke hatte der Künstler soziale Missstände der italienischen Gesellschaft gestellt, sein Interesse galt stets den an den Rand Gedrängten: Arbeitern, Prostituierten, Zugewanderten, Armen, wie sie in jenen Baracken um seine Todesstelle lebten und verkehrten.
Heute ist hier ein kleiner Erinnerungspark mit einer Skulptur des Bildhauers Mario Rosati angelegt. "Diese Todesstelle war ein magischer Ort mit einer wirklich seltsamen Geschichte", erinnert sich Kammerer. "Da lebten diese Barackenbewohner, dann gab es Fischer, denn da ist ja die Tibermündung. Und dann gab es Schmuggler und Prostituierte."
Pasolini habe den Ort gut gekannt. "Außerdem steht dort der Torre San Michele, ein Kastell von Michelangelo. Dieser Ort beinhaltet alles, was Pasolini verkörpert hat: Die damals sogenannte Dritte Welt, Handwerker, Subproletarier, ein sexuelles Sonderreservat, Kunst, Natur, das Meer. Was da alles zusammenkommt, ist wie ein Spiegelbild Pasolinis."
Pasolini fühlte sich immer unverstanden
In seinem Gedicht "Una Disperata Vitalità - Eine verzweifelte Vitalität" beschreibt Pasolini genau diese Stelle. "Darin heißt es: Der Tod besteht nicht darin, dass man nicht mehr kommunizieren kann, der Tod besteht darin, dass man nicht mehr verstanden wird", zitiert Kammerer, der das Gedicht selbst übersetzt hat. "Und das war Pasolinis lebenslanges Problem: Er fühlte sich immer unverstanden."
Dazu trug sicher auch bei, dass Pasolini homosexuell, zugleich katholisch und Kommunist war - "ein religiöser Atheist", so Kammerer. "Der katholische Mythos hat ihn fasziniert, und das in einer Zeit, in der Kommunisten exkommuniziert wurden."
Sympathie für Johannes XXIII.
Pasolini habe immer auf eine spirituelle Erneuerung und Rückbesinnung der Kirche auf Jesus gehofft. Während er den eher asketisch-distanzierten Papst Pius XII. nicht sehr mochte, habe er ein Faible für den volkstümlichen Johannes XXIII., Initiator des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) gehabt, dem er diese Öffnung zutraute.
"Pasolini hat den Papst des Konzils sehr geschätzt und freundlich über dessen 'Schildkrötenlächeln' geschrieben", berichtet Kammerer. "Der hat das Eis gebrochen, die Türen der Kirche aufgerissen. Das war ein toller Mann."
Etwa zur selben Zeit drehte Pasolini seinen siebten und wohl ungewöhnlichsten Film: "Das Erste Evangelium nach Matthäus" von 1964. "Da macht er aus Christus schon einen kleinen Fanatiker, aber ihn als Sozialrevolutionär anzulegen, finde ich folgerichtig."
Sehnsucht nach dem Heiligen
Der Künstler selbst sprach von der "Sehnsucht nach dem Heiligen", Triebkraft seiner frühen Filme "Accattone", "La Ricotta", "Mamma Roma" und eben des Christusfilms.
Der in Süditalien vornehmlich mit Laiendarstellern gedrehte Schwarz-Weiß-Film ist sehr bibeltreu inszeniert und mit einer spannenden Mischung aus Musik von Bach, Mozart, Prokofjew und traditionellen Liedern versehen. Kleines Aperçu: Seine Mutter Susanna, mit der er zeitlebens zusammen wohnte, spielte die Maria.
Während der Film bei seiner ersten Vorführung in Venedig heftige Kontroversen auslöste, zeigte sich die Kirche durchaus angetan: Der Päpstliche Medienrat nahm ihn in die Liste besonders empfehlenswerter Filme auf.
Für die Teilnehmer des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde in Rom eine Sondervorstellung organisiert, die etwa 100 Geistliche besuchten. Am Ende, so wird berichtet, gab es Standing Ovations von Konzilsvätern. Im Vorspann war eine Widmung Pasolinis an Johannes XXIII. zu lesen, denn der von ihm so geschätzte Papst war während der Dreharbeiten gestorben.
Der letzte Papst, den Pasolini erlebte, war Paul VI. "Auch über ihn hat Pasolini geschrieben, denn er hat ihn sehr geschätzt", erinnert sich Peter Kammerer.