Vom Fernen Osten über Frankreich bis an die Ostküste der USA hat das Leben von Wolf Siegert stattgefunden. Oder besser gesagt: Überall dort hat er viele Jahre seines Lebens gelebt. "Wenn ich eins kann, dann mit und zwischen den Kulturen leben", sagt der 76-Jährige über sich selbst. Siegert ist einer, der nach vorne denkt, der Herausforderungen annimmt und mit Kreativität zu lösen versucht. Ein "Changineer", so bezeichnet er sich, also jemand, der Wissenschaft und Wandel zusammen denkt.
Wandel kann ein Gewinn sein, aber auch mit vielen Herausforderungen verbunden. Das musste Siegert auch mit Blick auf seine Gesundheit erfahren. Seit acht Jahren ist er wegen der neurologischen Erkrankung ALS in Behandlung. Bei der Amyotrophen Lateralsklerose werden Nervenzellen zerstört, was zu Muskelschwäche und Lähmungen führt. Die Erkrankung ist nicht heilbar, die Lebenserwartung liegt bei etwa zwei bis fünf Jahren.
Erkrankung seit 15 Jahren
Bei Siegert traten erste Symptome bereits vor 15 Jahren auf. Warum die Erkrankung bei ihm so langsam voranschreitet, das wissen weder er noch seine Ärzte. Und dennoch ist dem Publizisten klar, dass sein Leben zu Ende geht - wobei das ja jeden betrifft. Auf die Frage, wie es sich im Angesicht des Todes lebe, entgegnet Siegert: "Das könnte ich auch Sie fragen".
Diese Antwort sagt so manches aus über die Einstellung, mit der Siegert durchs Leben geht - inzwischen mit Hilfsmitteln, aber immer noch selbstständig. Sogar Motorrad fährt er noch. Siegert versucht, die Krankheit so gut es geht in Schach zu halten. "Ich finde, man sollte mich nicht über meine Krankheit identifizieren", sagt er - auch wenn sie ein Teil von ihm ist. Er sei zudem kein großer Freund von Mitleid oder Selbstmitleid.
Trauerfeier als Fest des Lebens
Angst vor dem Sterben? Die hat Siegert nicht. "Aber es gibt schon Momente, in denen ich mir versuche vorzustellen, was das für eine Situation ist, in der man sich nichts mehr vorstellen kann. Und das ist schon knallhart." Die wichtigste Aufgabe sei für ihn, sich auf das Sterben vorzubereiten. Und das, merkt man ihm an, fällt ihm gar nicht so schwer. Denn schließlich ist der Tod für ihn Teil des Lebens.
So plant er schon seit längerem eifrig seine Trauerfeier. "Es ist Trauer und Feier", fasst er kurz zusammen, wie er sich sein Abschiedsfest vorstellt. Natürlich sei da Trauer, aber ebenso das Feiern des Lebens derjenigen, die da sind: "Das sollen sie auch tun." Gerne möchte er die Trauerhalle anmieten, damit dort mit gutem Essen und Livemusik ein kleines Fest gefeiert werden kann.
Körperspende für ALS-Forschung
Und was kommt dann? "Sie können über mich nicht schreiben, dass ich an das Jenseits glaube", stellt Siegert klar. Die Auferstehung – für ihn undenkbar. Der ALS-Abteilung der Berliner Charité möchte er nach seinem Tod seinen Körper zur Verfügung stellen, damit weiter erforscht werden kann, weshalb die Erkrankung bei ihm so langsam voranschreitet. "Dann gebe ich meinen Teil an die Gemeinschaft der Forschenden zurück."
Und da ist noch etwas, das nach seinem Tod kommt, aber ebenfalls viel irdischer ist als das Jenseits. Die digitale Welt könne einen Zustand von Unendlichkeit schaffen, sagt er. Und in dieser Welt ist Siegert seit vielen Jahren zu Hause, etwa über seinen Blog "DaybyDay", auf dem er seit zwei Jahrzehnten täglich einen Beitrag veröffentlicht.
Dieser Blog soll nach seinem Tod archiviert werden und mit einem QR-Code auf dem Grabstein zu erreichen sein. Aber nicht nur "seine Geschichte" soll so sichtbar werden. An der Familiengrabstätte mit seinem Vater und Großvater soll auch ein Hinweis auf das digitalisierte Tagebuch seines Großvaters aus der Zeit des Ersten Weltkriegs angebracht werden.
Humor als Lebenshilfe
Humor spielt in Siegerts Leben eine große Rolle. Doch mit vielen heutigen Kabarettisten kann er nach eigenem Bekunden nichts anfangen. Hanns Dieter Hüsch oder Georg Kreisler fanden bei ihm mehr Anklang.
Wichtig ist Siegert vor allem, keine zu plumpen Witze zu machen, geht es für ihn doch um viel mehr: "Ich finde, im Humor ist immer auch eine Quelle für Erkenntnis." Dann könne Humor auch eine Lebenshilfe sein.
Vielleicht erklärt Siegerts zukunftsorientierte Lebenseinstellung zudem das Verhältnis zu seiner Ehefrau. Beide führen seit einiger Zeit ihr eigenes Leben - in getrennten Wohnungen. Er habe sie ermutigt, einen eigenen Lebenskreis aufzubauen. Unter den Voraussetzungen, die seine Erkrankung mitbringe, hätten beide beschlossen, keine klassische Ehe mehr zu führen. Als er das sagt, schaut Siegert hoch und lächelt zufrieden.
Seine Frau ist wohl eine der wichtigsten Weggefährtinnen in Siegerts Leben, doch längst nicht die einzige. Insgesamt sind über die vergangenen Jahrzehnte in den verschiedenen Teilen der Welt knapp
20.000 Visitenkarten zusammengekommen.
Und am Ende sollen sie mit ihm verbrannt werden: "Damit verabschiede ich mich symbolisch nochmal von allen Menschen, denen ich zumindest einmal die Hand gegeben habe."