Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki stellt in seiner Predigt zum Hochfest Allerheiligen die Frage nach der Zumutbarkeit der Seligpreisungen aus der Bergpredigt. "Selig, die arm sind, die trauern, die verfolgt werden." Das wirke auf den ersten Blick wie ein Ideal, das kein Mensch erreichen könne. Und doch stelle Jesus genau diese Anforderungen gleich zu Beginn seines öffentlichen Wirkens. Woelki stellt fest: Jesus meint es ernst. Seine Maßstäbe sind hoch, aber nicht überfordernd, weil sie auf ein tieferes Ziel hinweisen.
Allerheiligen sei das Fest der Hoffnung, dass Heiligkeit für jeden Menschen möglich sei. In der Taufe, so Woelki, habe Gott uns bereits Anteil gegeben an seinem eigenen Leben und an seiner Heiligkeit. Heiligkeit sei nicht Perfektion, sondern Antwort auf Gottes Liebe. Diese Heiligkeit sei in Jesus Christus in seiner Liebe, die bis ans Kreuz ging, offenbar geworden.
Sich immer wieder neu auf Gott ausrichten
Der Erzbischof erinnert an die Worte aus dem ersten Johannesbrief: "Seht, welche Liebe uns der Vater geschenkt hat. Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es." Diese Liebe Gottes gelte jedem Menschen. Heiligkeit bedeute deshalb, sich immer wieder neu auf Gott hin auszurichten. Woelki betont: Heilige sind Menschen, die wissen, dass sie Sünder sind, und die dennoch immer wieder neu umkehren.
Diese Umkehr, so Woelki, sei ein Ausdruck von Freiheit. Gott zwinge niemanden zur Liebe, sondern wünsche sich eine freie Antwort. Deshalb nehme Gott auch das Scheitern in Kauf und öffne zugleich immer wieder den Weg zurück. Die Bereitschaft zur Gewissenserforschung, zur Umkehr und zur Bitte um Vergebung sei das Entscheidende. In diesem Zusammenhang hebt Woelki das Sakrament der Versöhnung hervor: Die Beichte sei ein Weg der Liebe, der Hoffnung und der Freude.
Umkehr, Versöhnung und Gottvertrauen
Beispielhaft nennt der Erzbischof den sogenannten "guten Schächer" Dismas, den Jesus selbst vom Kreuz her mit den Worten heiligte: "Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein." Diese Szene zeige, dass Umkehr auch im letzten Moment möglich sei. Gottes Barmherzigkeit sei grenzenlos. Kein Mensch sei endgültig verloren, solange die Bereitschaft zur Umkehr bestehe.
Woelki schließt mit der Botschaft, dass Gott die Heiligkeit des Menschen will, weil sie seiner eigenen Heiligkeit entspricht. Der Weg dorthin beginne schon jetzt, durch Umkehr, Versöhnung und das Vertrauen, dass Gott aus menschlicher Schwäche neues Leben schaffen kann.
DOMRADIO.DE hat am Hochfest Allerheiligen das Pontifikalamt aus dem Kölner Dom mit Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki übertragen. Der Kölner Domchor sang unter der Leitung von Alexander Niehues. Der Knabenchor der Hohen Domkirche sang im Pontifikalamt u. a. von Tomás Luis de Victoria die Missa "Vidi speciosam".
Das Hochfest Allerheiligen fällt in diesem Jahr auf einen Samstag. Die Kirche gedenkt an diesem Tag aller Heiligen, auch der nicht kanonisierten. Letztlich verehrt sie in ihnen Christus, dessen Gnade sich als machtvoll erwiesen und die Heiligen zur Vollendung geführt hat. Die Heiligen sind Zeugen für die Kraft Gottes und für den Sieg des Auferstandenen, der in seiner Kirche lebt und auch heute noch Menschen ergreift. So ist das Allerheiligenfest ein durch und durch österliches Fest. Das Evangelium von Allerheiligen beinhaltet die berühmten Seligpreisungen von Jesus Christus in der Bergpredigt:
"In jener Zeit, als Jesus die vielen Menschen sah, die ihm folgten, stieg er auf den Berg. Er setzte sich und seine Jünger traten zu ihm. Und er öffnete seinen Mund, er lehrte sie und sprach: Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden. Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. (Mt 5,1-12a)
Homilie zu Allerheiligen von Erzbischof Dr. Heiner Koch, Berlin
Wer eigentlich sind sie, jene Heilige, deren Hochfest wir heute feiern? – Die Makellosen, die Perfekten, jene, die ohne Sünde und Schuld gelebt haben, werden nicht wenige im ersten Moment denken.Im Credo bekennen wir die "Heilige Kirche". Und Paulus nennt die Christen der Gemeinde in Rom "von Gott geliebte, berufene Heilige" (Röm 1,7) – es waren nicht etwa Verstorbene, die er so bezeichnet, sondern seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in der Urkirche! Nicht nur heute, sondern zu allen Zeiten schüttelten wahrscheinlich viele über diese Bezeichnung den Kopf, angesichts der gleichzeitig zu beobachtenden Realität: Heilig? Wirklich? Einige wenige vielleicht, die Perfekten eben. Aber der Rest? Einer, der schon früh, im zweiten Jahrhundert, über den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit christlichen Lebens gestolpert ist, war ein Neubekehrter in Kleinasien mit Namen Montanus, welcher mit Vehemenz dagegen anging, dass Christen, die nach der Taufe noch schwere Schuld auf sich geladen hatten, in der Kirche bleiben dürften: Die heilige Kirche könne nur eine Gemeinschaft der Reinen sein!
Seine Anhänger betrachteten Heiligkeit als ethisch-praktische Leistung, und Perfektion als etwas, das man aus eigener Kraft erreichen könne, wenn man sich nur genug anstrengt. – Dieser Gedanke passt übrigens gut in unsere heutige Leistungsgesellschaft, mit Selbstoptimierung als zentralem Wert …Für die Kirche stellte der "Montanismus" eine fortdauernde Versuchung dar: Wo Heiligkeit angeblich aus eigener Kraft erzwungen werden kann, da stören diejenigen, denen das nicht gelingt. Der Ruf nach Reinigung liegt dann nicht mehr weit, nach einer Heiligung, welche die Gescheiterten ausschließt und mitunter auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Diese Häresie ist bis heute immer wieder zu beobachten in unserer Kirche und an ihren Rändern. Der katholischen Tradition entspricht sie aber nicht: Unser Glaube bekennt, dass allein Gott heilig ist (1 Sam 2,2)!
Wie aber äußert sich diese seine Heiligkeit? Gerade eben darin, dass Gott sich vom sündigen Menschen nicht abwendet und nur die Perfekten zum Heil berufen hätte, sondern dass er – selbst Mensch geworden – sich unter die Sündigen mischt, und am Kreuz alle Schuld an sich zieht. Heil und Heiligkeit können also nicht vom Menschen ausgehen. Sie haben ihren Ursprung allein in Gott! Und die Heiligkeit Gottes, sie ist nicht Absonderung, sondern Vereinigung, sie ist erlösende Liebe. So sind die von uns als "heilig" Verehrten nicht etwa Menschen, die in einem ethischen Sinne so tadellos gewesen waren, dass sie keine Vergebung bräuchten. Im Eschaton – dem Ende der Zeiten – werden auch sie einst vor dem Richterstuhl Christi stehen: Und nur das abschließende Urteil Gottes ist uns bereits bekannt. Paulus drückt es klar aus, wenn er sagt, dass alle ohne Ausnahme in Schuld verstrickt seien (Röm 3,23).
Alle brauchen die Barmherzigkeit Gottes, alle brauchen seine Vergebung!Gerade auch unsere Vorbilder im Glauben brauchten in ihrem Leben die Kraft des Heiligen Geistes, der allein der Grund der Heiligkeit ist. Sie brauchten ihn, um immer wieder aufstehen, umkehren und leben zu können als Getaufte und Gefirmte. Wenn wir die Heiligen verehren, verehren wir also im eigentlichen Sinne nicht Menschen: Wir verehren vielmehr das beständige, treue und verlässliche Wirken des Geistes Gottes, der unsere Kirche und jeden Menschen trotz aller Schwachheit und Fehler trägt. Sich ihm zu öffnen, ihm einladend zuzurufen: "Komm und wohne in mir und schenke mir deine heilige Kraft, die uns leben und aufleben lässt, du Heiliger Geist Gottes" ist das eigentliche Gebet des nach Heiligkeit strebenden Menschen.
So waren die Heiligen bereit, ein Leben lang mit Konsequenz zu lernen, Christ und Kirche zu werden. Es waren Menschen, die trotz aller erfahrenen Grenzen und offensichtlicher Schwachheit von Dankbarkeit erfüllt waren, denn sie wussten, dass sie unverdient erlöst sind. Deshalb sind Heilige immer auch Menschen mit einer lebendigen Frömmigkeit, einer tragenden Beziehung zu Christus. Ihr Leben war getragen von einer großen Hoffnung: Dass nicht sie allein mit ihren wenigen Kräften das Heil der Menschen schaffen müssen, dass sie aber als Werkzeuge Anteil daran haben, wenn Christus die ganze Schöpfung zur Vollendung führen wird. Sie waren, wie es auch das nun bald zu Ende gehende Heilige Jahr uns nahebrachte, echte "Pilger der Hoffnung". Diese Hoffnung gab und gibt ihnen Kraft, sich für die Heilung so vieler – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – verletzter Menschen einzusetzen. Menschen, die ihr Menschsein nicht entfalten konnten, denen Bildung nicht gewährt wurde, denen der nötigste Lebensunterhalt verwehrt war, die ungerecht gefangen und gequält wurden und die nicht ihrer menschlichen Würde entsprechend leben durften. Heilige waren immer Menschen, die sich für die Größe und Würde eines jeden Menschen einsetzten. Gerade ihr Kampf für ihre Nächsten ist für uns Zeichen und Zeugnis.
Ihre Lebensgeschichten sind nicht etwa historisch abgeschlossene Erzählungen zur frommen Erbauung, sondern lebendiger Aufruf zur Nachahmung: Beispiele, die auch uns Hoffnung geben! Wir glauben eben nicht an ideale, makellose Wesen oder an die Perfektion einer jeglicher Spur von Persönlichkeit entkleideten Abstraktion. Jeder Mensch in seiner ganzen Individualität ist mit Leib und Seele, mit persönlicher Geschichte und Prägungen und allen Beziehungen hineingerufen in die Herrlichkeit Gottes!
Von den Heiligen bekennen wir am heutigen Festtag, dass sie in Gottes himmlischer Herrlichkeit leben und sie mit uns eine große Gemeinschaft bilden. Ihre ewige Fürbitte im Himmel trägt uns, auch über den Tod hinaus: Sie treten für uns ein als unsere Fürsprecherinnen und Fürsprecher. Sie wissen um unsere Fehler und Schwachheiten, denn es waren oft auch ihre eigenen. Mit ihnen dürfen wir also einstimmen in das Lob Christi, wie es in jeder Präfation heißt: "Mit allen Engeln und Heiligen singen wir das Lob deiner Herrlichkeit". Und wir bleiben in der Kirche über Zeiten und Tod hinaus verbunden als Gemeinschaft, als eine echte Gemeinschaft aller Heiligen, trotz unserer Fehler und Schwachheiten.
(Quelle: MAGNIFICAT. Das Stundenbuch, Ausgabe: November 2025 © Butzon & Bercker GmbH, Kevelaer, www.magnificat.de)