Alttestamentler Paganini sieht Wurzeln des Antisemitismus in der Bibel

"Warum sind immer die Juden schuld?"

Warum zieht sich der Hass gegen Juden wie ein roter Faden durch die Geschichte? Der Theologe Simone Paganini spricht im Interview über biblische Ursprünge und kirchliche Verantwortung. Warum wirkt der "Gottesmörder" Vorwurf bis heute?

Autor/in:
Hilde Regeniter
Eine Kippa liegt in einer Pfütze auf dem Asphalt. / © Harald Oppitz/KNA (KNA)
Eine Kippa liegt in einer Pfütze auf dem Asphalt. / © Harald Oppitz/KNA ( KNA )

DOMRADIO.DE: "Warum sind immer die Juden schuld?" fragen Sie im Titel Ihres neuen Buches. Haben Sie die Antwort gefunden?

Prof. Dr. Simone Paganini (Theologie-Professor an der RWTH Aachen und Buchautor): Eigentlich nicht. Die Frage im Titel war auch nicht im Sinn einer Forschungsfrage formuliert, die ich beantworten will. Es war mehr eine Art Verzweiflungsfrage nach dem Motto "Wie kann es bloß sein, dass immer die Juden für alles verantwortlich gemacht wurden und werden?"

Simone Paganini beim DOMRADIO (DR)
Simone Paganini beim DOMRADIO / ( DR )

Ich habe als Bibelwissenschaftler und Historiker festgestellt, dass nur sehr wenige Dinge sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit ziehen. Aber seitdem es Juden gibt - also wohl seit dem 5. oder 6. Jahrhundert vor Christus - gibt es Antisemitismus. Da drängt sich schon die Frage auf, warum das so ist. Der Buchtitel spiegelt die Verzweiflung darüber, dass es nicht wirklich eine plausible Antwort gibt.

DOMRADIO.DE: Antisemitismus zu definieren ist allein eine Wissenschaft für sich. Bis heute hat sich die Staatengemeinschaft nicht auf eine gemeinsame Definition einigen können, nicht einmal die westlichen Staaten. Sie machen zumindest wiederkehrende Charakteristika von Antisemitismus aus. Welche sind das? 

Simone Paganini

"Es ist eine uralte Sache, dass Juden zu Monstern gemacht werden."

Paganini: Antisemitismus zu definieren ist wirklich extrem schwierig. Deswegen wollte ich lieber Charakteristika von Antisemitismus beschreiben, die im Laufe der Geschichte immer wieder zu beobachten sind. Da ist zunächst einmal die Kollektivierung, also die Rede von "den Juden". Es geht nicht um konkrete jüdische Menschen, sondern um "die Juden an sich".

Juden werden dehumanisiert, also nicht mehr als Menschen gesehen, sondern auf eine Ebene mit Tieren oder Ungeziefer gestellt. So kennen wir es aus der Zeit des Nationalsozialismus. Aber es ist eine uralte Sache, dass Juden zu Monstern gemacht werden.

Weiter ist da etwas, was ich als Sündenbock-Automatismus beschreibe. Egal was passierte - von der Pest im Mittelalter bis hin zur Wirtschaftskrise zwischen den Weltkriegen - immer brauchte man jemanden, der die Schuld trägt. Das waren die Juden. Diese Art der Schuldzuweisungen gipfelte in der Shoah. Aber auch vorher waren Juden deswegen in der Geschichte immer wieder diskriminiert, verfolgt und sogar ermordet worden.

Holocaust-Gedenkstätte Berlin / © photosounds (shutterstock)
Holocaust-Gedenkstätte Berlin / © photosounds ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie haben weiter festgestellt, dass andere Gruppen oft diskriminiert wurden, weil sie als minderwertig angesehen wurden, aber Juden diskriminiert wurden und werden, weil sie als mächtiger, reicher, klüger und daher als gefährlicher wahrgenommen wurden und werden …

Paganini: Sicher wollen bis heute viele weiße US-amerikanische Südstaatler keine Schwarzen sein, weil sie Schwarze für minderwertig halten. Bei den Juden liegt die Sache anders. Sie werden aber auch nicht aus Neid diskriminiert. Die Sache geht tiefer. Das zeigen Verschwörungsmythen, nach denen Juden die Reichsten sind und als solche die Weltpolitik beeinflussen, gar kontrollieren. 

Man hasst die Juden nicht, weil sie minderwertig sind, sondern weil sie mächtig sind. Es geht nicht um Neid. Es geht um Nicht-Gönnen und noch mehr. All diese Verschwörungstheorien sind schrecklich und mit bloßem Neid nicht zu erklären. Wir können nur feststellen, dass es so ist. Vieles von dem, was wir heute gegen den Staat Israel hören, geht auch in diese Richtung. 

DOMRADIO.DE: Sie zeigen anhand einer ganzen Reihe von Beispielen, dass der heutige Hass gegen Juden uralte Wurzeln hat, die bis in die Antike reichen und sich auch im Alten Testament spiegeln. Im Buch Exodus geht es sozusagen gleich antisemitisch los …

Simone Paganini

"Das ist quasi der erste geplante Genozid an den Juden der Geschichte."

Paganini: Natürlich können wir nicht die Bibel alleine heranziehen. Archäologisch haben wir wohl vieles schlicht nicht gefunden, was uns hätte Auskunft geben können. Was wir aber sagen können, ist, dass die beiden ersten Belege des Namens Israel zunächst in Ägypten auftauchen und ein paar Jahrhunderte später in Moab, einem weiteren Nachbarland des alten Israel.

In beiden Dokumenten geht es um die Zerstörung Israels. Beide legen die Zerstörung Israels nahe. Auch im Buch Exodus, in dem sozusagen der Gründungsmythos des Volkes Israel in Worte gefasst wird, geht es genau darum: Am Anfang ist da ein Volk - die Juden - und da ist ein Feind - der Pharao, der sie zerstören will.

Ein aufgeschlagener Pentateuch, die fünf Bücher Moses. / © Julia Steinbrecht/KNA (KNA)
Ein aufgeschlagener Pentateuch, die fünf Bücher Moses. / © Julia Steinbrecht/KNA ( KNA )

Das ist quasi der erste geplante Genozid an den Juden der Geschichte. Da müssen wir uns fragen, was in den Köpfen der damaligen Autoren vorging, die hier ihre eigene Geschichte in mythischen Kategorien beschreiben. Was geht in ihren Köpfen vor, dass sie den Ursprung ihres Volkes mit der Erfahrung beschreiben, dass "irgendjemand uns zerstören will"? Das sitzt offenbar tief. Und offenbar ist es eine Erfahrung, die diese jüdischen Autoren ständig gemacht haben.

Das ist ein Schreckmoment, wenn wir bedenken, dass Gründungsmythen normalerweise etwas Positives sind. Tatsächlich gibt es im Buch Exodus ein Happy End. "Allen Vernichtungsversuchen zum Trotz haben wir es geschafft, uns weiterzuentwickeln und weiterzumachen." Aber allein, dass das so auf dieser Ebene erzählt wird, ist schon erschreckend.

DOMRADIO.DE: Die alttestamentarische Geschichte von Esther erzählt - auch wenn sie am Ende ebenfalls gut ausgeht - genauso vom Dilemma der Juden, die als die ewig Anderen stigmatisiert werden. Was zeigt das?

Paganini: Genau das gleiche. Das Buch Esther wird sehr häufig als die Erzählung des ersten versuchten - zum Glück nicht erfolgreichen - Pogroms gegen die Juden gelesen. Das Ende ist positiv. Esther, die jüdische Prinzessin am Hof des persischen Königs, gelingt es, ihr Volk zu retten. Ihr Gegenspieler Haman wird dafür bestraft, was er den Juden antun wollte.

Simone Paganini

"Die Frage ist: Warum passiert es trotzdem immer wieder?"

Aber das Happy End ist nur ein schwacher Trost. Es ist nicht das, was diese Geschichte ausmacht. Wir haben auch im Buch Esther nicht mit einer historischen Geschichte zu tun, sondern mit einer Revision von Leid, das man erfahren hat und das immer wiederkehrt. Dieses Happy End löst eben nicht alle Probleme, die es davor und danach, von der Antike bis in die Moderne für die Juden gab.

Man kann die Entstehung des Staates Israel nach dem Zweiten Weltkrieg als Happy End nach der Shoah sehen. Manche tun das auch. Die Frage ist aber, ob man das Leiden und das Desaster davor in Kauf nehmen muss, um ein gutes End zu bekommen? Die Antwort ist natürlich: Nein! Eine weitere Frage ist, warum es trotzdem immer wieder passiert. 

DOMRADIO.DE: Jesus selbst war Jude. Trotzdem finden sich gerade in den Berichten über sein Werden und Wirken - den Evangelien - eine ganze Reihe antisemitischer Passagen. Wie kann das sein?

Paganini: Um das zu verstehen, müssen wir das historische Werden des Neuen Testaments in den Blick nehmen. Das sind Texte, die im Laufe von ungefähr einhundert Jahren entstehen. Das entspricht drei bis vier Generationen. Jesus selbst ist natürlich Jude. Das Christentum entsteht später dadurch, dass sich Juden, die an Jesus glaubten, und Juden, die nicht an Jesus glaubten, immer weiter voneinander entfernen und sich schließlich ganz trennten.

Simone Paganini

"Sehr deutlich zeigt sich im Johannes-Evangelium, dass Jesu als einen Mann stilisiert, der kein Jude mehr ist."

Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus durch die Römer gehen die beiden Religionen wirklich auseinander. Plötzlich muss man sich als Christ irgendwie von der Ursprungsreligion abgrenzen. Diese Abgrenzung vollzieht sich vor allem in den Schriften der vierten und fünften Generation. Sehr deutlich zeigt sich das im Johannesevangelium, dass Jesu als einen Mann stilisiert, der kein Jude mehr ist.

In der vorhergehenden Generation entstehen die Evangelien nach  Lukas und nach Matthäus. Sie erzählen die Geschichte der Geburt Jesu. Jesus wird von einer jungen jüdischen Frau in das jüdische Volk hineingeboren. Matthäus führt sogar eine Genealogie an, die bis auf Adam zurückgeht. Im Evangelium nach Johannes existiert diese Geburtsgeschichte nicht. Der Prolog dieses Evangeliums stellt dagegen klar, dass Jesus direkt von Gott kommt. Also ist Jesus nicht mehr Jude.

Diese Abgrenzung führt dazu, dass der Ursprung verleugnet wird. Der Ausspruch "Der Vater der Juden ist der Teufel" leitet sich aus dem Johannesevangelium ab. (Anmerkung der Redaktion: Im achten Kapitel des Johannesevangeliums heißt es in Vers 44 "Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Begierden wollt ihr tun."). Die Wirkungsgeschichte reicht bis in der Nazizeit und darüber hinaus bis zum Teil leider heute.

DOMRADIO.DE: Gerade im Johannesevangelium - das ist Ihre Erkenntnis - haben antisemitische Vorstellungen ihren Ursprung, die später andere für ihre Zwecke instrumentalisiert haben, zum Beispiel die Nationalsozialisten. Die Vorstellung vom Gottesmord - also die Unterstellung, dass die Juden kollektiv schuld am Tod Jesu seien - ist da zu nennen. Was hat es damit auf sich? 

Artikel-ID: 1766179379
BARCELONA, SPAIN - MARCH 5, 2020: The modern fresco Jesus beforie Pilate in the atrium of church Església de la Concepció from 19. cent. / © Renata Sedmakova (shutterstock)
Artikel-ID: 1766179379 BARCELONA, SPAIN - MARCH 5, 2020: The modern fresco Jesus beforie Pilate in the atrium of church Església de la Concepció from 19. cent. / © Renata Sedmakova ( shutterstock )
"Das Christentum entwickelte sich im Römischen Reich und den Autoren dieser Passagen ging es schlicht darum, die Römer zu retten, sie von Schuld reinzuwaschen", sagt Simone Paganini.

Paganini: Einige Passagen im Johannesevangelium sind später geschrieben worden. Sie sind politisch. Das Christentum entwickelte sich im Römischen Reich. Den Autoren dieser Passagen ging es schlicht darum, die Römer zu retten und sie von Schuld reinzuwaschen. Sie mussten aber jemandem die Verantwortung für Jesu Tod geben. Daher gaben sie die Verantwortung den Juden. So berichtet der Text von Juden, die vor Pilatus schreiend Jesu Tod fordern und sagen, "Sein Blut soll über uns kommen!"

Es gibt ein ganzes Repertoire von Sätzen in diesem Zusammenhang, die nicht historisch sind, sondern schlicht dazu dienen, die Verantwortung in diesem Prozess von den Römern hin zu den Juden zu verschieben. Historisch ist es viel klarer, dass Jesus nicht von den Juden, sondern von den Römern getötet worden ist. 300 Jahre später wird beim Konzil von Nizäa – wir begehen in diesem Jahr das Jubiläum – die Wesensgleichheit von Jesus mit Gott festgestellt, also aus Jesus quasi ein Gott gemacht worden. 

Was nach der oben genannten Argumentation bedeutet, dass Juden nicht nur den Menschen Jesus getötet haben, sondern damit auch zu Gottesmördern geworden sind. Dieser historisch gesehen absolut schwachsinnige Vorwurf zieht sich innerhalb des christlichen Antisemitismus durch die Geschichte hindurch bis in die Nazizeit. Er taucht sowohl in den ersten Reden Adolf Hitlers auf als auch in seinem "Mein Kampf" auf. Historisch absolut nicht haltbar und trotzdem immer wieder wiederholt.

DOMRADIO.DE: Sie sagen, dem Thema Antisemitismus komme in der christlichen Reflexion bis heute kaum Relevanz zu. Christlicher Judenhass werde dagegen noch immer auf Antijudaismus reduziert. Wie erklären Sie das? 

Simone Paganini

"Um das Problem zu lösen, müssen wir anfangen, bestimmte Ereignisse und bestimmte Prozesse richtig zu benennen."

Paganini: Ich glaube, es ist ganz einfach zu erklären. Niemand will als Antisemit dastehen. Auch die arabischen Länder, die gegen Israel sind, bezeichnen sich heute nicht als Antisemiten, sondern als Antizionisten. Als das Wort Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, war es etwas Positives Antisemit zu sein. Mittlerweile will niemand als Antisemit gelten. 

Gerade in Ländern mit Nazi-Vergangenheit wie Deutschland und Österreich, ist es das Schlimmste, was einem Politiker passieren kann, als Antisemit dargestellt oder bezeichnet zu werden. Ich finde, dass wir anfangen müssen, die Dinge beim Namen zu nennen. Vielleicht ist es unmöglich, das Problem des Antisemitismus wirklich zu lösen, aber wir müssen uns doch wenigstens der historischen Verantwortung stellen. 

Den christlichen Judenhass auf Antijudaismus zu reduzieren, wie es noch immer oft getan wird, ist zu wenig. Auch im Zusammenhang des Christentums ist Antisemitismus das richtige Wort. Tatsachen mit den richtigen Namen zu benennen, scheint mir sehr wichtig. Wir leben leider in einer Zeit, in der viele zu locker mit Begriffen umgehen. 

"Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel" steht auf einem Plakat während einer Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt. / © Annette Riedl (dpa)
"Für einen gerechten Frieden in Palästina und Israel" steht auf einem Plakat während einer Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt. / © Annette Riedl ( dpa )

Wenn sie zum Beispiel junge Leute als Terroristen bezeichnen, weil sie sich auf die Straße kleben, um das Klima zu schützen. Oder Putin greift die Ukraine an und es ist kein Krieg, sondern eine Sonderoperation. Jetzt sehen wir Israels Vorgehen in Gaza und nennen es Verteidigungskrieg.

Das Beispiel Antisemitismus zeigt auch, was passiert, wenn man nicht den Mut hat, die Sache beim Namen zu nennen. Ich glaube, um das Problem zu lösen, müssen wir anfangen, bestimmte Ereignisse und bestimmte Prozesse richtig zu benennen. Vielleicht können wir sie dann irgendwann auch lösen. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Antisemitismus in Deutschland

Antisemitische und antiisraelische Straftaten nehmen in Deutschland wieder zu. Den Angaben der Bundesregierung zufolge wurden unter anderem 434 Fälle von Volksverhetzung, 15 Gewaltdelikte sowie 70 Fälle, die Sachbeschädigung betreffen, gezählt. Weitere Delikte betreffen etwa die Störung der Totenruhe oder Nötigung. Mehr als 90 Prozent der Straftaten wurden von deutschen Staatsangehörigen verübt. Von einer deutlich höheren Dunkelziffer ist auszugehen. 312 von 339 Tatverdächtigen waren Deutsche.

Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak (KNA)
Kundgebung gegen Antisemitismus in Berlin / © Markus Nowak ( KNA )
Quelle:
DR

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