Seelsorger am Münchner Hauptbahnhof wünscht neuer Bahn-Chefin Glück

"Ich nehme Unmut wahr"

Vom Bahn-Frust bis hin zu Lebensfragen: Diakon Matthias Scheidl sucht als Bahnhofsseelsorger in München das Gespräch mit Besuchern, Reisenden und Zugbegleitern. Er sieht das als Chance, auch mit Kirchenfernen in Kontakt zu kommen.

Hauptbahnhof in München / © Photographer515 (shutterstock)
Hauptbahnhof in München / © Photographer515 ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Sie und der katholische Pfarrer Eugen Strasser-Langenfeld sind seit gut einem Jahr als Seelsorger am Münchner Hauptbahnhof im Einsatz. Diese Form der Bahnhofseelsorge ist bisher einzigartig in Deutschland. Was ist der Unterschied zur Bahnhofsmission, die es ja an jedem größeren Bahnhof gibt? 

Diakon Matthias Scheidl (links) mit seinem Kollegen Pfarrer Eugen Strasser-Langenfeld (rechts)  / © Bettina Spahn (Bahnhofsmission München)
Diakon Matthias Scheidl (links) mit seinem Kollegen Pfarrer Eugen Strasser-Langenfeld (rechts) / © Bettina Spahn ( Bahnhofsmission München )

Matthias Scheidl (Diakon und Bahnhofseelsorger):  Tatsächlich sind wir seit etwa einem Jahr von der Erzdiözese München und Freising für die Bahnhofsseelsorge eingesetzt. Wir arbeiten in enger Kooperation mit der Bahnhofsmission zusammen, die viele hauptamtliche und darüber hinaus 150 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. 

Die Bahnhofsmission bietet Beratung und Information für Reisende, aber auch für Menschen in komplexen Situationen mit komplexen Problemen, wobei komplexe Probleme oft Wohnungslosigkeit, Sucht, psychische oder auch allgemeine Krankheiten sind. 

Diesen Menschen bietet die Bahnhofsmission eine erste Notversorgung. Wir als Bahnhofsseelsorger beraten in gewisser Weise auch, suchen aber vor allem das Gespräch mit den Leuten. 

Matthias Scheidl

"Wir bieten ein offenes Ohr, sind für den jeweiligen Menschen da, widmen ihm unsere ganze Aufmerksamkeit. Bei uns kann er oder sie sich frei aussprechen."

Wir bieten ein offenes Ohr, sind für den jeweiligen Menschen da, widmen ihm unsere ganze Aufmerksamkeit. Bei uns kann er oder sie sich frei aussprechen. Das braucht Zeit. Zeit, die die Mitarbeitenden bei einer Beratungsstelle oft nicht haben.  

In die Münchner Bahnhofsmission zum Beispiel kommen jeden Tag bis zu 800 Klientinnen und Klienten, werden bis zu 90 Beratungsgespräche geführt. Dass da oft weder für Sozialberatung noch für ein persönliches Wort Zeit bleibt, liegt auf der Hand. Da springen wir ein. 

DOMRADIO.DE: Viele Reisende sind ganz schön frustriert von den Zuständen bei der Deutschen Bahn. Was bekommen Sie als Bahnhofseelsorger davon mit? 

Scheidl: Ich komme tatsächlich oft ins Gespräch mit Menschen, die gerade auf ihren Zug warten, der nicht kommt oder der stark verspätet abfährt. Viele haben sich längst auf die Unpünktlichkeit eingestellt und ihre Reise dementsprechend geplant. 

Aber natürlich höre ich auch Unmut. Dieser Unmut schlägt zum Beispiel dann in Ärger oder gar Wut um, wenn Reisende von einem zum anderen Gleis geschickt werden, weil der Zug erst hier und dann auf einmal dort einfahren soll. 

Diesen Unmut nehme ich natürlich wahr. Aber es ist auch wieder nicht so, dass alle Reisenden nur noch frustriert sind über die Bahn. Nach wie vor ist die Bahn ein beliebtes Reisemittel. 

Allerdings höre ich von den Zugbegleiterinnen und Zugbegleitern, dass sie doch viel deutlicher Ärger spüren. Teilweise entlädt sich der Ärger auch bei ihnen, manchmal auch sogar in Beschimpfungen oder tätlichen Übergriffen. Das macht viel mit den Zugbegleitern. Auch mit ihnen komme ich ins Gespräch und habe ein Ohr für ihre Anliegen. 

DOMRADIO.DE: Zugbegleitende brauchen also ganz besonders viel Seelsorge? 

Scheidl: Sicher nicht alle. Aber ich merke schon, dass einige sehr unter der schwierigen Situation bei der Bahn leiden. Besonders, wenn sie ihren Beruf eigentlich gerne machen und selbst gerne reisen, fällt es ihnen schwer, die aktuelle Situation mitzutragen. 

Matthias Scheidl

"Für sie ist es traurig, wenn nach Jahren oder manchmal auch Jahrzehnten nicht viel übrigbleibt von der ursprünglichen Freude an ihrem Job. "

Für sie ist es traurig, wenn nach Jahren oder manchmal auch Jahrzehnten nicht viel übrigbleibt von der ursprünglichen Freude an ihrem Job. Da ist es gut, wenn sie Gehör finden. Nicht nur bei uns Seelsorgern, sondern auch bei der Bahn, die sich durchaus um solche Kollegen kümmert. 

DOMRADIO.DE: Wie können Sie denn helfen? 

Scheidl: Indem ich ihnen wirklich zuhöre. Am Bahnsteig treffe ich immer wieder auch Zugbegleiter, die auf ihren nächsten Einsatz warten. Wir haben meist fünf bis zehn Minuten, um ins Gespräch zu kommen.  

Da höre ich oft sehr gut heraus, was sie beschäftigt. Als Seelsorger, aber auch als normaler Bürger zeige ich Verständnis für ihre Situation. Ich ermuntere sie, sich in ihrem Betrieb Hilfe zu suchen, mit Verantwortlichen über die Begebenheiten zu sprechen und sie nicht in sich hineinzufressen, um nicht irgendwann ganz zu verzagen. 

In der Regel kann ich diese Hilfe nicht selbst bieten, normalerweise kommt es zu keinen weiteren Kontakten. Wobei ich schon das Angebot mache, dass sie mich noch einmal anrufen können und meine Karte mit Telefonnummer ausgebe.  

Münchener Hauptbahnhof / © RukiMedia (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Inwieweit ist wirklich Seelsorge gefragt und nicht bloße psychologische Unterstützung? 

Scheidl: Seelsorge, so habe ich es in dem Jahr am Bahnhof erlebt, wird erst einmal nicht direkt angefragt. Berater der Bahnhofsmission schicken uns manchmal jemanden, der bei ihnen war und in ihren Augen noch einmal eine andere Ansprache braucht. Dass ein Reisender direkt nach mir als Seelsorger ruft, ist dagegen sehr selten. 

Das erklärt sich eigentlich von selbst, schließlich wollen die Leute am Bahnhof meist entweder den nächsten Zug erwischen oder sind gedanklich schon unterwegs zur U- oder S-Bahn oder zum Zielort. 

Aber ich spreche Menschen an und versuche, sie zunächst über ein Alltagsgespräch wahrzunehmen. Daraus ergeben sich immer wieder Situationen, in denen ich dann doch auch als Seelsorger gefragt werde; etwa wenn es um Familienangelegenheiten geht, die Ausbildung der Kinder oder vielleicht auch den Todesfall eines lieben Menschen. 

Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Gespräch am Bahngleis, bei dem herauskam, dass die Frau von einer Beerdigung eines Verwandten kam. Sie erzählte, dass es keine religiöse Trauerfeier gegeben, sondern ein freier Redner die Ansprache gehalten hatte. 

Wir haben dann über ihre Beziehung zum Verstorbenen gesprochen und was sie mit ihm verbunden hatte. Wir haben darüber gesprochen, wie sie jetzt mit ihrer Trauer umgeht. Diese Trauernde hat sich in der Viertelstunde, in der wir gemeinsam am Bahngleis standen, tatsächlich geöffnet, so dass wir ein sehr dichtes und intensives Trauergespräch führen konnten. 

Matthias Scheidl

"Das ist unsere Art der Seelsorge: Wir greifen Themen auf, die gerade dran sind."

Das ist unsere Art der Seelsorge: Wir greifen Themen auf, die gerade dran sind. Wenn wir dann im Gespräch mit jemanden merken, dass die Dinge komplexer sind, dass da vielleicht eine Sucht oder eine psychische Krankheit mit im Spiel ist, vermitteln wir an die Stellen weiter, die spezielle Hilfe anbieten können. 

DOMRADIO.DE: Jeder größere deutsche Flughafen hat inzwischen eine eigene Flughafenseelsorge, bräuchte es entsprechend auch eine eigene Bahnhofseelsorge? Verstehen Sie sich als eine Art Modell für andere Großstädte? 

Scheidl: Wir sind zunächst einmal selbst ein Modellprojekt, mit dem die Erzdiözese München und Freising versucht, den sozialen Raum Hauptbahnhof zu erschließen. Wir wollen herausfinden, ob es hier tatsächlich Seelsorge braucht.  Schließlich müssen wir mit immer weniger Personal auszukommen und die Frage ist, wo wir künftig unsere Seelsorger gut einsetzen. 

Ich halte den Hauptbahnhof für einen sehr guten Ort, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, die wir normalerweise nicht erreichen, mit Menschen, die die Angebote der Kirche nicht von sich ausnutzen. 

Wenn sie aber feststellen, dass wir auf sie zugehen, freuen sie sich oftmals doch. Auch wenn wir versuchen, ihre Sprache und Haltung besser zu verstehen und anzunehmen, wenn wir feststellen,  dass wir so viel gemeinsam haben. Wir merken, dass wir als Seelsorger wirklich mit Menschen am Bahngleis und im Bahnhof in Kontakt kommen. Immer wieder geht es in unseren Gesprächen um die wichtigen Fragen des Lebens, um das Woher und das Wohin, immer wieder können wir zum Nachdenken anregen. 

DOMRADIO.DE: Als Bahnhofsseelsorger haben sie natürlich viel mit Menschen rund um die Bahn zu tun. Was wünschen Sie der neuen Chefin der Deutschen Bahn? 

Scheidl: Ich bin kein Wirtschafts- oder Unternehmensstratege und kann auch als Seelsorger keine großen Ratschläge geben. Natürlich habe ich verfolgt, was aus Sicht des Bundesministeriums die wichtigen Ziele bis 2029 sind. Da wünsche ich allen eine glückliche Hand bei den großen Fragestellungen. 

Evelyn Palla wird sicherlich nicht alles einfach so lösen können, das hat sie selbst gesagt. Dazu braucht es das Zutun vieler. Ich persönlich finde interessant, dass sie aus Südtirol kommt. Südtirol ist eine sehr schöne Landschaft in den Bergen, eine Kulturlandschaft, die viele aufsuchen, um sich hier zu erholen. Einerseits.

Andererseits kann Frau Palla als Südtirolerin vielleicht die Erfahrung in ihr neues Amt einbringen, mit wenig Ressourcen viel zu erreichen. Denn die Landwirtschaft in Südtirol ist durch die Berge sehr eingeschränkt, trotzdem ist Südtirol sehr fruchtbar. 

Übertragen auf die Bahn heißt das, dass sie vielleicht trotz widriger Umstände etwas erreichen kann. Ich wünsche ihr, dass sie die Bahn tatsächlich wieder zu einem Ort machen kann, an dem Menschen sich gerne aufhalten. 

Hoffentlich kriegt sie es am Ende hin, dass die Bahn wieder so gut funktioniert, dass Reisenden zufrieden und wohlwollend ihre Angebote nutzen. Ich wünsche Frau Palla tatsächlich, dass sie von ihrer Herkunft aus Südtirol her diese Dinge mitbringt.  

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Bahnhofsmissionen in Deutschland

Die Marke Bahnhofsmission wurde 1894 von christlichen und jüdischen Frauen gegründet. Sie wollten junge Frauen vom Land, die zur Arbeitssuche nach Berlin kamen, vor sozialer und sexueller Ausbeutung schützen. Heute gibt es an mehr als 100 Bahnhöfen bundesweit Standorte, die in Trägerschaft der beiden großen Kirchen stehen. Sie betreuen nach eigenen Angaben mehr als zwei Millionen Menschen jährlich.

Täglich rollen neue Herausforderungen auf die Helfer der Bahnhofsmission zu / © Ina Rottscheidt (DR)
Täglich rollen neue Herausforderungen auf die Helfer der Bahnhofsmission zu / © Ina Rottscheidt ( DR )
Quelle:
DR

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