Evangelische Jugend Wurzen erforscht NS-Verbrechen in Sachsen

"Ist alles vor unserer Haustüre passiert"

"Sie waren so alt wie wir, als sie starben." Die Evangelische Jugend Wurzen forscht sei Jahren zu NS-Verbrechen in der Region und deckt bewegende Schicksale auf. Nun bekam sie den renommierten "Margot Friedländer Preis".

Diakon Fabian Hanspach (v.l.n.r.) schaut sich mit den Jugendlichen Tamara, Hannes und Helena Akten für die Recherche zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen mit Namen von polnischen Zwangsarbeitern aus der NS-Zeit an / © Karin Wollschläger (KNA)
Diakon Fabian Hanspach (v.l.n.r.) schaut sich mit den Jugendlichen Tamara, Hannes und Helena Akten für die Recherche zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen mit Namen von polnischen Zwangsarbeitern aus der NS-Zeit an / © Karin Wollschläger ( KNA )

"In der Schule kam das mit den Zwangsarbeitern gar nicht so richtig vor. Und dann finden wir hier raus, dass das alles genau vor unserer Haustüre passiert ist", erzählt Helene (20). "Wir haben die Geschichten dieser Menschen erforscht. Viele waren so alt wie wir, als sie gestorben sind. Das hat mich total berührt." Helena ist Mitglied der Evangelischen Jugend in Wurzen, einem 16.000-Einwohner-Städtchen in Sachsen.

Dass der Dichter Joachim Ringelnatz hier 1833 zur Welt kam, ist weithin bekannt. Dass hier im Zweiten Weltkrieg rund 40 polnische Zwangsarbeiter und teils ihre Kinder unter widrigsten Umständen starben und noch auf dem örtlichen Friedhof beerdigt liegen, kam erst durch die Recherchen der Evangelischen Jugend von 2021 bis 2023 wieder ans Licht. Inzwischen erinnern zwei Gedenksteine an die Opfer von damals. Es war nicht das erste Projekt der Jugendlichen unter Leitung von Diakon Fabian Hanspach zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der Region.

Aufarbeitung im Sinne Margot Friedländers

Für ihr langjähriges Engagement erhielt die Evangelische Jugend am Dienstagabend in Berlin den "Margot Friedländer Preis" 2025, und zwar den mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis. Die sächsischen Jugendlichen erfüllen mit ihrer Aufarbeitungsarbeit "in besonderem Maße die Ideale Margot Friedländers", wie die nach der im Mai gestorbenen Holocaust-Überlebenden benannte Stiftung in der Begründung lobte.

"Wir haben jetzt schon drei Projekte abgeschlossen", erzählt Hanspach. Angefangen habe alles 2020, als Tonaufnahmen eines jüdischen Holocaust-Überlebenden aus Wurzen auftauchten. Er war Sohn des örtlichen Kaufhaus-Besitzers; die Nationalsozialisten brannten 1933 den Laden nieder. Er floh mit seinem Bruder nach England und nahm in hohem Alter seine Lebenserinnerung auf Tonband auf und versteckte sie in seinem Haus. Seine Erben fanden sie nach seinem Tod, und schließlich gelangten die Aufnahmen nach Wurzen. Die Evangelische Jugend machte dazu einen kleinen Film.

Kopien von Akten mit Namen von polnischen Zwangsarbeitern aus Wurzen am 13. September 2025 in Wurzen / © Karin Wollschläger (KNA)
Kopien von Akten mit Namen von polnischen Zwangsarbeitern aus Wurzen am 13. September 2025 in Wurzen / © Karin Wollschläger ( KNA )

"Irgendwann kam Fabian dann mit alten Friedhofsplänen an", erinnert sich Tamara (17) an die Anfänge des Projekt "Lost names" zu den polnischen Zwangsarbeitern, das sich anschloss. "Dann fing die Detektivarbeit an." Die Jugendlichen durchforsteten in ihrer Freizeit und den Ferien zwei Jahre lang die Archive der Stadt und der Friedhofsverwaltung. "Einige Akten waren zum Beispiel in einer Mülltüte im Safe in Vergessenheit geraten", erinnert sich der junge Diakon. Online-Recherchen in den "Arolsen Archives" in Hessen, dem weltweit größten Archiv zu Opfern und Überlebenden des NS-Regimes, zeigten schnell: Es waren viel mehr Opfer als gedacht.

Ausgedachte Todesursachen

In Nazi-Deutschland wurde auch über alle Gräuel penibel Buch geführt. So fanden die Jugendlichen jede Menge alte Listen mit Namen, Geburts- und Sterbedaten, Todesursachen. "Im Gespräch mit Experten und Zeitzeugen haben wir dann erfahren, dass auch viele offizielle Todesursachen meist nur ausgedacht waren, damit es nicht so schlimm klang: Lebensschwäche zum Beispiel statt verhungert", erinnert sich Tamara.

Und noch etwas fand die Jugendgruppe heraus: Bei den polnischen Toten auf dem Wurzener Friedhof handelte es sich nicht etwa um Opfer eines KZ-Todesmarsches, wie man anfänglich dachte, sondern um Zwangsarbeiter aus dem "Hermann Göring Arbeitslager". Schon kurz nach dem Krieg sei dort alles plattgemacht und eine Gartensparte darauf errichtet worden, die es bis heute gibt. Es war im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache gewachsen.

Todesmarsch durch Wurzen

Erst vor wenigen Monaten schloss die Evangelische Jugend ihr jüngstes Projekt ab: die Übersetzung des in den USA 2021 erschienenen und von der "New York Times" hochgelobten Buches "The Nine" über die Erinnerungen von neun französischen Frauen, die Zwangsarbeit in Leipzig, das Konzentrationslager in Ravensbrück und einen Todesmarsch überlebten - der durch Wurzen führte. "Was sie schildern, die medizinischen Experimente und Folter - das war nicht ohne, das so detailliert zu übersetzen", erinnert sich der 18-jährige Hannes.

Eindrucksvoll sei auch ein Treffen mit Nachfahren der Frauen gewesen und mit der US-amerikanischen Autorin Gwen Strauss, die zuvor überall, nur nicht in Deutschland einen Verlag für ihr Buch gefunden hatte und sich tief bewegt über das Engagement der Jugendlichen zeigte. "Und dann sind wir den Weg des Todesmarsches abgefahren", erzählt Hannes, "und standen plötzlich da, wo Zinka und die anderen entkommen sind, weil sie sich tot stellten und neben die anderen Leichen legten. Wie damals blühte dort der gelbe Raps."

Quelle:
KNA