DOMRADIO.DE: Diese Videos auf Instagram oder TikTok kommen oft eher lustig daher. Wie sehr überrascht es Sie, dass ausgerechnet biblische Figuren für diesen neuen Trend der Videotagebücher benutzt werden?
Prof. Dr. Johannes Heger (Lehrstuhlinhaber für Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg): Das mag tatsächlich erst mal seltsam anmuten und auch irritieren, dass gerade biblische oder auch andere religiöse Figuren, die nicht in der Bibel vorkommen, von solchen KI-generierten Videos erfasst werden.
Wenn man aber sich das Phänomen ein bisschen länger überlegt, dann ist die Überraschung dann doch nicht so groß, denn künstliche Intelligenz als Technologie bietet ja ganz viele Optionen, und zwar für alle gesellschaftlichen und inhaltlichen Bereiche, eben unter anderem mit solchen videogenerativen Tools.
Und dass Menschen seit jeher daran interessiert sind, sich die biblische Welt vorzustellen, lässt sich über die Kunst-, Kultur- und auch die jüngste popkulturelle Geschichte leicht nachvollziehen, wenn man beispielsweise an Werke der bildenden Kunst, Jesusfilme oder auch an die schon länger präsente Meme-Kultur auf Social Media denkt.
DOMRADIO.DE: Es ist ein ganz neues Phänomen, die Figuren sind oft sofort erkennbar. Man könnte aber auch sagen, sie sehen eben deswegen auch sehr klischee-mäßig aus. Reproduziert so etwas nicht bereits festgefahrene Vorstellungen?
Heger: Auch da haben Sie natürlich einen ganz wichtigen und zentralen Punkt angesprochen. Bei der Frage ist es mir aber ganz wichtig, erst mal vorwegzunehmen: Es gibt technisch-skeptische Einstellungen, die genau hinter solchen Fragen liegen und die dann generell sagen: Die KI ist böse, die KI produziert Stereotype und so weiter. Da möchte ich zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen, denn ich würde behaupten wollen, dass die KI-generierten Videos zwar technisch etwas vollkommen Neues sind und doch ordnen sie sich in eine anthropologische Grundstruktur ein.
Denn Menschen haben immer ein Bedürfnis danach, sei es biblische Texte oder andere Texte, diese in ihrer Welt zu erschließen, zu erkunden und sich quasi vor Augen zu führen. Das wird jedem schon mal so gegangen sein, zum Beispiel mit dem Roman "Der Name der Rose" von Umberto Eco, dass man sich vorgestellt hat, wie die einzelnen Charaktere ausgesehen haben.
Ein solches Grundbedürfnis befriedigt letztendlich diese KI-generierten Videotagebücher. Insofern sind sie erst mal positiv zu bewerten, aber natürlich haben Sie auch vollkommen recht: Viele der kursierenden Videos sind sehr stereotyp und produzieren Klischees, teilweise sogar Fehlvorstellungen. Allerdings scheint mir wichtiger, nicht das festzustellen, dass dem so ist, sondern viel mehr uns als Kirche, als Theologen, aber auch als ganz normale Betrachterinnen und Betrachter dieser Videos, zu fragen: was fangen wir jetzt mit diesem Phänomen eigentlich an?
DOMRADIO.DE: Manche von den Videos sind spaßig, aber einige könnte man auch schon fast blasphemisch nennen, etwa wenn Jesus vom Kreuz ins Handy spricht. Wie geht man denn mit eher geschmacklos erscheinenden Reels um?
Heger: Das ist eine sensible Frage. Natürlich können einzelne Videos die Grenzen des Zumutbaren überschreiten.
Generell würde ich der Kirche, der Theologie und auch meinem Fachbereich der Religionspädagogik davon abraten, zu schnell das Wort Blasphemie in den Mund zu nehmen und damit diesen neuen Trend schlichtweg zu disqualifizieren und zu negieren. Etwas abstrakt betrachtet, schreibt sich ja Religion in solchen KI-generierten Videos in die aktuelle KI und eben auch Popkultur ein und damit passiert eigentlich etwas, was wir uns ja zumindest abstrakt betrachtet wünschen; nämlich, dass Religion im Gespräch, im Diskurs bleibt.
Darin sehe ich weniger eine Gefahr als vielmehr eine Chance. Diese Inszenierung, wie wir die auch finden mögen, geben uns als Theologen, als Christinnen und Christen oder auch im Gespräch miteinander die Chance, unsere Glaubensüberzeugung in den digitalen, aber auch in den analogen Diskurs einzubringen. Zum Beispiel indem wir eben auch markieren, wo und wie solche Videos Fehlvorstellungen produzieren.
Allerdings will ich aber auch nicht die Gefahr wegdiskutieren, dass es, wenn solche Videos nämlich nicht eingeordnet oder eben nicht reflektiert werden, zu einer Banalisierung von Religion kommen kann oder eben zur Produktion von Fehlvorstellungen. Das - und da will ich auch richtig verstanden werden - ist natürlich nicht wünschenswert.
DOMRADIO.DE: Welche Aufgaben und Chancen hat dieses Videophänomen denn zum Beispiel für den Religionsunterricht oder auch zum Beispiel für die Erstkommunionkatechese?
Heger: Tatsächlich würde ich da genau an dieser gedanklichen Spur ansetzen und religiöser Bildung eine grundsätzliche Aufgabe zuschreiben. Kinder und Jugendliche müssen in dieser Welt, die voll ist von KI, von Technologie – der Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder spricht von der Kultur der Digitalität – zu einer kritischen Medienkompetenz befähigt werden. Das bedeutet konkret, sie müssen dazu in die Lage versetzt werden, die Quellen solcher Videos zu hinterfragen und eben abzuwägen, inwiefern diese jüdisch-christlichen Glaubensvorstellungen eben entsprechen oder auch nicht.
Deswegen würde ich sagen, gerade weil diese Videos so ein ambivalentes Phänomen sind, gehören sie als Lerngegenstände sowohl in den Religionsunterricht wie auch in andere Bildungskontexte, Erstkommunionkatechese oder ähnliches. Da gibt es didaktisch sehr viele Möglichkeiten.
Kinder könnten beispielsweise mit solchen Videos konfrontiert werden, sie könnten dazu eingeladen und motiviert werden, ihre eigenen Vorstellungen mit denen der Videos ins Gespräch zu bringen, um sich dann nochmal rückzuversichern, was denn eigentlich im Text drinsteht.
Wenn wir in den Schulen oder auch in den Gemeinden so weit sind, solche videogenerativen Tools zur Verfügung zu haben, dann könnte man auch mit Schülerinnen und Schülern mal ganz aktiv daran arbeiten, selbst gute Videos zu produzieren und darüber ins Gespräch kommen, was ein gutes Video in diese Richtung ausmachen könnte. Oder wie wäre es denn beispielsweise auch mit fächerübergreifendem Unterricht und einem Projekttag dazu? Das ist etwas, was ich als ganz große Chance sehe, denn diese Videos sind ja kein Phänomen, das man jetzt nur theologisch oder religionspädagogisch einordnen könnte.
Wir erkunden beispielsweise an Schulen mit den Kolleginnen und Kollegen der Geschichte, Informatik, Religion, Politik und so weiter, was denn eigentlich hinter solchen Videos steckt. Wie sind die aus der Perspektive der Informatik, der Religion, der Politik und so weiter anzuschauen? Und dann bilden wir uns am Schluss ein Urteil, sind informiert und vielleicht ein bisschen kompetenter als vorher.
Das Interview führte Mathias Peter.