Vorweg: Der Gigant Johannes Paul II. ist nicht mehr da - schon zwei Jahrzehnte inzwischen nicht mehr. In einer Region mit so maximaler Transformation ist das eine sehr lange Zeit. Längst steht der frühere "Ostblock" nicht mehr fest Richtung Europa und den Westen ausgerichtet, sondern zerrissen zwischen der EU und Wladimir Putins Russland mit seinem Waffengeklirr, zwischen Demokratie und Rechtspopulismus à la Viktor Orban, Jaroslaw Kaczynski oder Robert Fico.
Auch ins Getriebe des kirchlichen Wiederaufbruchs nach den Jahrzehnten kommunistischer Unterdrückung scheint einiger Sand gekommen sein. Die anfängliche Begeisterung kommt ins Stocken angesichts riesiger Herausforderungen.
Ungebremster Materialismus
Die Weitsicht des Polen Johannes Paul II. zeigte sich nicht nur im prophetischen Aufruf bei seiner Amtseinführung 1978: "Habt keine Angst! Reißt die Tore weit auf für Christus!", seiner impliziten Kampfansage an das kommunistische System. Sie zeigt sich ebenso in seiner Sozialenzyklika "Centesimus annus" von 1991. Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte der Antimarxist aus Krakau längst begriffen, was den Menschen in Mittel- und Osteuropa als neue Bedrohung ins Haus stand: der ungebremste Materialismus des siegreichen Westens.
Sozialismus und Kommunismus haben ein religiöses Vakuum hinterlassen, das durch Konsum und medial vermittelte Schönheitsideale gefüllt wurde. Wo die neuen Wege zu vermeintlichem sozialem Erfolg führen, verhallen die Cassandra-Rufe der Kirche ungehört.
Der Budapester Kardinal Peter Erdö spricht schnörkellos über die Gesellschaft seiner ungarischen Heimat: Der Kommunismus habe den "bürgerlichen Anstand ausgelöscht"; die freiwillige Befolgung von Rechtsnormen sei sehr niedrig. Eine Generation nach der politischen Wende von 1989 scheint vor allem zu gelten: Nur mit Statussymbolen bist du dabei; Schein vor Sein - ähnlich im Übrigen wie beim einstigen Vorbild Westen.
"Atheistische Gesellschaft"
Der Bruch zwischen traditioneller christlicher Volksfrömmigkeit und einer "atheistischen Gesellschaft" entstand in Europas Mitte und Osten zwischen 1917 und 1945: der Oktoberrevolution in Russland und dem Sieg der Roten Armee an der deutschen "Ostfront". Die siegreichen Kommunisten agierten zur Verfolgung der Kirche jenseits des Eisernen Vorhangs mit unterschiedlicher Härte - und unterschiedlichem Erfolg.
Der war in Tschechien, der DDR und Albanien durchschlagend. In Polen, Kroatien, der Slowakei und (begrenzt) in Ungarn konnten sich volkskirchliche Strukturen erhalten.
Die politisch entscheidende Frage, welcher Kurs für die bedrängten Christen der beste (gewesen) wäre - widerständige Intransigenz oder schmerzhafte Kompromisse für eine erhoffte friedliche Koexistenz - ist auch in der historischen Rückschau nicht zu beantworten. Sicher ist, dass die nachgiebige Vatikanische Ostpolitik unter Johannes XXIII. (1958-1963) und vor allem unter Paul VI. (1963-1978) mit seinem Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli bei vielen einen faden Beigeschmack hinterlassen hat.
Glaubenszeugen wie die Kardinäle Mindszenty (Ungarn), Stepinac (Kroatien) oder Slipyj (Ukraine) wurden im Regen stehen gelassen.
Vielfach politische Wendehälse erhielten dagegen um einer vermeintlichen Mitgestaltung der Gesellschaft willen den Vorzug. Das gilt nicht nur für die kirchliche Hierarchie, sondern auch für den einfachen Klerus. Verwerfungen beschäftigen die Ortskirchen bis heute. Die kommunistische Vergangenheit ist vielerorts ungenügend aufgearbeitet, auch wenn von den Protagonisten von damals nur noch wenige leben.
"Stunde Null"
Der Sturz des Kommunismus 1989/90, ein ideologischer Triumph für Johannes Paul II., war zugleich eine "Stunde Null". Vielerorts begann ein aufopferungsvoller Wiederaufbau: geistig, personell wie auch und vor allem materiell.
Einst stattliche Gebäude wurden vom Staat als Ruinen zurückerstattet: etwa als Ausbildungsstätten für einen Welt- oder Ordensklerus, der nicht hoffen konnte, in der postsozialistischen Gesellschaft materielles Wohlergehen oder eine christliche Grundbefindlichkeit vorzufinden. Im Gegenteil schlug und schlägt ihm säkularer Argwohn entgegen: Die Kirche wolle sich auf demokratischem Wege neue Privilegien erschleichen.
Ähnlich wie die Slawenapostel Kyrill und Method im 9. Jahrhundert müssen die Missionare von heute versuchen, auf Wasser zu schreiben; sprich ohne vorhandene religiöse Fundamente die Menschen zu erreichen. Viele, auch viele menschlich Geschädigte des Sozialismus, sind nicht mehr bereit, die neue Freiheit durch eine gefühlte Unterwerfung unter eine christliche Werteordnung wieder einzubüßen.
Manches christliche Aufblühen, etwa die spektakuläre Expansion der mit Rom verbundenen ("unierten") Kirche im Osten der Slowakei, könnte sich, so ist zu befürchten, am Ende als trockene Blüte erweisen.