Nahost-Hilfswerk versucht Fachkräfte im Libanon zu sichern

"Abwandern, aber bleiben"

Michel Constantin plädiert für eine realistische Strategie zur Fachkräftesicherung im Libanon. Der Regionaldirektor des päpstlichen Nahost-Hilfswerks "Päpstliche Mission für Palästina" betont zudem den Wert von Bildung und Emigranten.

Michel Constantin, Regionaldirektor der Päpstlichen Mission Catholic Near East Welfare Association, abgekürzt CNEWA, am 10. Mai 2023 in seinem Büro im libanesischen Beirut  / © Andrea Krogmann (KNA)
Michel Constantin, Regionaldirektor der Päpstlichen Mission Catholic Near East Welfare Association, abgekürzt CNEWA, am 10. Mai 2023 in seinem Büro im libanesischen Beirut / © Andrea Krogmann ( KNA )

KNA: Herr Constantin, das päpstliche Nahost-Hilfswerk "Päpstliche Mission für Palästina" wurde 1949 gegründet, um die Hilfsbemühungen in dem Land zu konzentrieren. Was ist heute seine Aufgabe?

Michel Constantin (Regionaldirektor des päpstlichen Nahost-Hilfswerks "Päpstliche Mission für Palästina" für Libanon, Syrien, Irak und Ägypten): Heute vertreten wir einen regionalen Ansatz und betreuen neben Palästinensern auch Menschen in Libanon, Syrien, Irak und Ägypten.

Unser Hauptziel ist es, den Christen in den genannten Ländern dabei zu helfen, in ihrer Heimat zu bleiben, sowie den dortigen Kirchen zu helfen. Wir konzentrieren uns dabei auf pastorale und humanitäre Anliegen.

Figur einer gekrönten Madonna im Schaufenster eines Geschäfts mit Heiligenfiguren im Libanon / © Francesca Volpi (KNA)
Figur einer gekrönten Madonna im Schaufenster eines Geschäfts mit Heiligenfiguren im Libanon / © Francesca Volpi ( KNA )

Wir unterstützen 13 katholische Priesterseminare, darunter neun im Libanon. Im humanitären Bereich arbeiten wir mit katholischen Einrichtungen und Kirchen zusammen und kümmern uns um alle Menschen, ohne Diskriminierung.

Wir arbeiten nicht mit säkularen Institutionen wie etwa der UN zusammen und folgen in unserer Arbeit der katholischen Lehre, auch da, wo wir mit anderen Kirchen zusammenarbeiten.

KNA: Wo liegen heute die großen Herausforderungen?

Constantin: Libanon und Syrien stehen seit 2011 unter hoher Belastung. In Syrien ist ein kleines Licht am Ende des Tunnels zu sehen, aber Angriffe aus Israel, eine Abschottung des Landes und Sanktionen belasten Syrien weiter.

Die wirtschaftliche und politische Situation hat sich verbessert, und der Krieg ist praktisch seit 2018 beendet. Doch das Land ist gespalten.

Im Libanon stehen wir vor drei enormen Krisen: wirtschaftlich, finanziell und haushaltspolitisch. 40 Prozent der Libanesen sind Staatsbedienstete, die ihre Gehälter fast ausschließlich in libanesischen Pfund erhalten.

Michel Constantin

"Die libanesische Diaspora ist sehr unterstützend, das reicht aber nicht, um das Land am Leben zu halten."

Das System kollabiert nur aufgrund des Geldtransfers von außen nicht, aber der ist nicht ausreichend, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die libanesische Diaspora ist sehr unterstützend, das reicht aber nicht, um das Land am Leben zu halten.

Aber das Land steht vor der Gefahr, dass alle Sektoren, wie Schule und Krankenhäuser, kollabieren. Zudem altert die libanesische Bevölkerung, weil die Jugend das Land verlässt. Damit haben die Krisen eine riesige Auswirkung auf die Kirche.

KNA: Überaltert scheint die Bevölkerung im Libanon aus westlicher Sicht nicht.

Constantin: Im Vergleich stimmt das. Wir haben zwar keine verlässlichen Statistiken, aber das Durchschnittsalter im Libanon wird auf 40 bis 45 Jahre geschätzt. Demographisch ist es aber so, dass auf rund 4,5 Millionen Libanesen etwa 58.000 Neugeborene pro Jahr kommen.

Den syrischen Flüchtlingen – etwa zwei Millionen – werden jährlich 60.000 Kinder geboren, wobei dies nur die Zahl der offiziell verzeichneten Geburten ist. Man geht davon aus, das bis zu 65 Prozent der Neugeborenen im Libanon Kinder syrischer Flüchtlinge sind.

KNA: Wo haben die Kirchen einen besonderen Einfluss in der libanesischen Gesellschaft?

Constantin: Nehmen wir das Beispiel der christlichen Schulen. Seit hunderten von Jahren ist es den Kirchen ein Anliegen, Bildung für alle zugänglich zu machen.

Der Libanon ist für seine ausgezeichnete Bildung bekannt. Von rund einer Million Schülern besuchen gut 710.000 private Schulen – von denen etwa 45 bis 50 Prozent Schulen in kirchlichen Trägerschaften sind.

Michel Constantin, Regionaldirektor der Päpstlichen Mission Catholic Near East Welfare Association, abgekürzt CNEWA, am 10. Mai 2023 in seinem Büro im libanesischen Beirut  / © Andrea Krogmann (KNA)
Michel Constantin, Regionaldirektor der Päpstlichen Mission Catholic Near East Welfare Association, abgekürzt CNEWA, am 10. Mai 2023 in seinem Büro im libanesischen Beirut / © Andrea Krogmann ( KNA )

Allein die 322 katholischen Schulen machen 35 Prozent aus. Während die staatlichen Schulen seit mehr als vier Monaten streiken, haben die katholischen Schulen keinen einzigen Tag geschlossen.

Aber die Schulen stehen unter enormem Druck. Das Budget etwa wird immer im Juli für ein Jahr erstellt - in libanesischen Pfund. Die Währung aber hat fast 80 Prozent ihres Wertes verloren – wie soll man da an einem Haushaltsplan festhalten?

Wir versuchen also, zusätzliche Gelder für Gehälter, Strom und Unterhalt zu finden. Durch gestiegene Kosten machen Ausgaben für den Betrieb 65 Prozent des Budgets aus.

Die Schulen brauchen eine nachhaltige Unterstützung für mehrere Jahre. Wir denken etwa an Patenschaften für Schulen oder für Schüler. Auch ein Solarsystem ist im Gespräch, vor allem für Schulen in kleinen Dörfern, deren Existenz besonders bedroht ist.

KNA: Warum liegen Ihnen die christlichen Schulen so am Herzen?

Constantin: Bildung ist das einzige Kapital, das wir haben, damit Menschen ins Ausland gehen können und dort Arbeit finden können.

So können sie Geld in den Libanon senden, um das Land am Leben zu halten. Auf dieser Bildung basiert unsere Wirtschaft.

KNA: Zugespitzt formuliert, hilft die Kirche mit ihrem Bildungsangebot der jungen Generation bei der Abwanderung?

Constantin: Wir dürfen nicht in Nostalgie schwelgen, sondern müssen realistisch sein. Nicht alles im Zusammenhang mit der Emigration ist schlecht. Ohne Auslandslibanesen könnte das Land nicht überleben.

Michel Constantin

"Wer aber nach Kanada geht, wird Bürger Kanadas und löst sich in die kanadische Gesellschaft auf. Wir müssen die Abwanderung in den Osten erleichtern, weil damit eine Chance besteht, dass sie zurückkommen."

Wir können die Kinder nicht in die besten Schulen schicken und ihnen dann sagen, sie müssen aus patriotischen Gründen im Libanon bleiben. Wir sollten uns stattdessen auf zwei Möglichkeiten konzentrieren.

Zum einen sollten wir die Abwanderung kanalisieren. Wer in die Golfstaaten auswandert, wird keine Staatsbürgerschaft erhalten und immer mit dem Libanon verbunden sein.

Wer aber nach Kanada geht, wird Bürger Kanadas und löst sich in die kanadische Gesellschaft auf. Wir müssen die Abwanderung in den Osten erleichtern, weil damit eine Chance besteht, dass sie zurückkommen.

Wenn es uns gelingt, dass unsere Kinder in die Nachbarländer abwandern, können sie zudem lernen, dass der Islam nicht unser Feind, sondern eine Realität ist, mit der wir leben müssen.

Allerdings müssen wir hart an unserer Bildung arbeiten, weil diese Länder sehr wettbewerbsorientiert geworden sind.

KNA: Und das zweite Feld?

Constantin: Ich nenne es "Abwandern, aber bleiben": Wir müssen die Grundlage dafür schaffen, dass unsere Kinder hierbleiben, aber für internationale Firmen arbeiten können. Die Kirche hat viel Grundbesitz und Liegenschaften.

Basilika Saint Paul in Harissa Stadt im Libanon / © Fotokon (shutterstock)
Basilika Saint Paul in Harissa Stadt im Libanon / © Fotokon ( shutterstock )

Wir brauchen einen Masterplan für eine Art Silicon Valley. Schon heute gibt es Menschen, die einen Teil der Zeit im Ausland arbeiten und einen Teil im Libanon.

Wir haben eine sehr intelligente junge Generation, sie verdient die bestmögliche Unterstützung.

KNA: Diese Ansicht zur Abwanderung weicht von der Meinung vieler Kirchenführer zum Thema ab.

Constantin: Was Irak und Syrien betrifft, kämpfen die Kirchenführer und Patriarchen gegen die Emigration und machen den Westen dafür mitverantwortlich.

Syrien etwa hat etwa die Hälfte seiner Christen durch Emigration verloren, und sie werden nicht wiederkommen. Im Irak gibt es heute kaum noch Christen. Im Libanon haben wir eine realistische Sicht.

Der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai mischt sich in das Thema nicht ein, er beschuldigt auch nicht den Westen oder jene, die das Land verlassen. Er macht das Land selbst für die Abwanderung verantwortlich.

Das Interview führte Andrea Krogmann.

Der Libanon

Der Libanon ist geprägt durch das Nebeneinander zahlreicher Religionen. Mit etwa 30 Prozent hat die parlamentarische Demokratie den größten Anteil Christen in der Arabischen Welt. Die Muslime - Sunniten und Schiiten - machen inzwischen wohl mehr als 60 Prozent aus. Offiziell anerkannt sind 18 Religionsgemeinschaften, darunter die Minderheiten der Drusen und Alaviten.

Symbolbild: Flagge des Libanon / © Yulia Grigoryeva (shutterstock)
Symbolbild: Flagge des Libanon / © Yulia Grigoryeva ( shutterstock )
Quelle:
KNA