Historiker beklagten Reformstarre in katholischer Kirche

"Lebensbedrohliche" Entwicklung

Die katholische Kirche erlebt einen Massen-Exodus. Doch die Entfremdung hat eine lange Vorgeschichte. Historiker halten ihr vor, den Wandel jahrzehntelang ignoriert zu haben. Eine Bestandsaufnahme zur Synodalversammlung.

Autor/in:
Christoph Arens
Kuppel des Petersdoms vor dunklen Wolken / © dade72 (shutterstock)
Kuppel des Petersdoms vor dunklen Wolken / © dade72 ( shutterstock )

Gehen oder bleiben? Selten hat diese Frage die Katholiken in Deutschland so bewegt wie heute. Der Vertrauensverlust infolge des Missbrauchsskandals ist immens, der Exodus ungebremst: 2021 kehrten 359.338 Katholikinnen und Katholiken ihrer Kirche den Rücken, ein Rekordwert. Vom Ende der "Volkskirche" ist die Rede. Erstmals gehören weniger als die Hälfte der Bundesbürger einer der großen Kirchen an.

Entkirchlichung schon früher begonnen?

Aus Sicht des Bonner Kirchenhistorikers Christoph Kösters und des Luzerner Historikers Antonius Liedhegener schreitet die Entkirchlichung zwar aufgrund von aktuellen Krisen gegenwärtig rasend schnell voran. Allerdings habe der Prozess der Veränderung der religiösen Landschaft in Deutschland schon viel früher begonnen. Es gebe langfristige gesellschaftliche Entwicklungen der Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung – die seit langem erhobenen Daten zur konfessionellen Verteilung in Deutschland, zu Eheschließungen, Kirchenbesuch oder der Entwicklung der Priesterzahlen zeigen das. So seien seit Ende der 60er Jahre neue Partizipationsformen in Staat und Gesellschaft entstanden; zugleich sei das katholische Milieu weithin implodiert.

Kirchenaustritte in Köln erreichen 2021 ein Allzeithoch

Im vergangenen Jahr sind so viele Kölnerinnen und Kölner wie nie zuvor aus der Kirche ausgetreten. Für 2021 verzeichnet das Amtsgericht Köln nach eigenen Angaben vom Montag 19.340 Austritte. Das waren beinahe doppelt so viele wie im bisherigen Spitzenjahr 2019, als 10.073 Menschen in Köln der Kirche den Rücken kehrten. Das Amtsgericht unterscheidet nicht zwischen evangelischer und katholischer Konfessionszugehörigkeit.

Bücher in Kirchenbänken / © Daniel Schweinert (shutterstock)
Bücher in Kirchenbänken / © Daniel Schweinert ( shutterstock )

In einem aktuellen Beitrag für die Zeitschrift "Herder-Korrespondenz" (September) halten Kösters und Liedhegener den Verantwortlichen vor, solche gesellschaftlichen Trends jahrzehntelang ignoriert zu haben. Bei der Suche nach Ursachen und möglichen Handlungsmöglichkeiten würden die Erkenntnisse von historischer Forschung, Soziologie und Politikwissenschaft kaum beachtet.

"Mitglieder gehen zunehmend auf Distanz"

Nach den Worten der beiden Historiker ist die Krise für die Kirche mittlerweile "lebensbedrohlich". "Alle Versuche, einem neuen religiösen Frühling in Deutschland eine Chance zu geben, scheinen durch die klerikale Reformstarre zur Fruchtlosigkeit verdammt", erklärte Liedhegener auch Ende Mai beim Katholikentag in Stuttgart. Auch viele aktive Kirchenmitglieder gingen zunehmend auf Distanz.

Liedhegener verweist auf eine Studie von 2019: Rund 15 Prozent der Katholiken in Deutschland seien "inaktiv". 60 Prozent gehörten zu den "Gelegentlichen" mit vielleicht monatlicher Gottesdienstteilnahme, 10 Prozent gehören zum engeren Kreis der "Teilhabenden" und noch 14 Prozent sind "Gestaltende", die sich auch außerhalb von Gottesdiensten in der Kirche einbringen.

"Drohender Verlust einer ganzen Generation"

Die Wiener Theologin Regina Polak sieht einen dramatischen Abbruch bei der Weitergabe des Glaubens an die jüngere Generation. "Die Kirche droht eine ganze Generation zu verlieren oder hat eine große Mehrheit schon verloren", sagt sie. Als Ursachen nennt Polak einerseits die Tendenz zur Säkularisierung und Individualisierung.

Religion habe kaum noch Einfluss auf die Wertebildung junger Leute, die vor allem im digitalen Raum stattfinde. Zugleich seien aber die dauerhaft ungelösten innerkirchlichen Konflikte ein Klotz am Bein. Außerdem sei es der Kirche nicht gelungen, die Glaubenstradition so neu zu "übersetzen", dass sie für junge Leute nachvollziehbar sei.

Das gelte nicht nur für Sexualität und Genderfragen. Auch Kösters und Liedhegener schreiben, viele junge Menschen distanzierten sich von Religionsgemeinschaften, wenn sie diese als patriarchal, homophob und frauendiskriminierend erlebten. 

Reformen nötig

Was ist aus Sicht der Fachleute zu tun? Den Wunsch nach weitreichenden Änderungen teilt aus ihrer Sicht die große Mehrheit der Kirchenmitglieder. Kösters kritisiert insbesondere, dass die Kirche Reformen, deren Notwendigkeit bereits vor 50 Jahren erkannt worden seien, so lange verschleppt habe. So sei es in einer pluralen und säkularen Gesellschaft kaum noch vermittelbar, wenn die Kirche Frauen von zentralen Aufgaben ausschließe.

Für Liedhegener und Kösters steht fest, dass die Kirche zu einer "Mitmachkirche" mit veränderten Strukturen, mehr Vielfalt und weniger Hierarchie werden muss. Sie müsse wieder stärker von unten nach oben organisiert werden, sich außerdem intensiver in der Zivilgesellschaft vernetzen. Zugleich aber müsse die Kirche sich den Katholikinnen und Katholiken mehr zuwenden, die sich ihr noch stärker zugehörig fühlen. Ohne sie werde es schwerlich eine lebendige Kirche in Deutschland geben.

Quelle:
KNA