Was brauchen wir, um uns verstehen zu können?

Wenn aus schwarzen Kacheln plötzlich ein Albtraum wird

"Das ist so optisch!" Marina lässt erschrocken meine Hand los und steht stocksteif am Flughafen. Inmitten von lärmenden Geschäften laufen wir über spiegelglatte, schwarzglänzend polierte Fliesen. Marina ist eine zerbrechliche, winzig kleine alte Dame. Ihre Muttersprache ist polnisch und der Arzt hat schon lange eine Demenz attestiert. Jetzt gerade findet sie sich nicht mehr zurecht.

Fernsehkameras (dpa)
Fernsehkameras / ( dpa )

Das Problem ist nicht, wie man vermuten könnte, dass sie nach über 40 Jahren das erste Mal wieder geflogen ist. Nein, das Problem ist tatsächlich: "Es ist so optisch hier." Besorgt schaue ich sie an.

Und frage mich: Was können wir voneinander verstehen? Schon ganz ohne Demenzkrankheit, ist es oft ein kleines Wunder, dass wir uns überhaupt verstehen können.

Mir hilft dabei das Bild von Kameras. Nehmen wir ein Fußballspiel. Und Kameras, die am Rand, hinter den Toren, auf den Rängen aufgebaut sind. Und vielleicht noch eine, die an Stahlseilen durchs Stadion fliegt. Alle filmen das gleiche Spiel. Und spucken doch so unterschiedliche Bilder aus. Schon alleine, weil jede eine ganz andere Perspektive einnimmt.

Die hat jeder von uns auch, seine eigene Sicht auf die Dinge. Und hinzu kommen: unsere Geschichte, unsere Wunden, unsere aktuelle Stimmung. Oder auch, ob wir gerade Zahnschmerzen haben oder nicht. Ich glaube, uns verstehen, das geht nur, wenn wir versuchen, die Perspektive des anderen einzunehmen.

Wie bei Marina. Klar ist, sie hat Angst. Ich versuche herauszufinden, wovor. So folge ich ihrem Blick auf die spiegelglatten Kacheln, die, obwohl schwarzgrundig, fast durchsichtig scheinen. Und plötzlich weiß ich, was sie so ängstigt. "Hast Du Angst, dass du durch den Boden fällst?"

"Ja, ja. Fallen, fallen." Zum Glück ist ein Pfeiler in Griffnähe da. Nach ihm greift Marina panisch. Warum auch immer, meine Hand macht ihr nur noch mehr Angst. Schrittchen für Schrittchen tastet sie sich vorwärts. Ganz so, als gingen wir über eine Eisfläche. Kommen endlich am Ende der Galerie an. Finden die Gepäckausgabe. Jetzt geht es Marina wieder gut. Was auch immer in ihr vorgegangen sein mag.

Noch mehr als sonst verstehe ich, wie wenig wir uns verstehen können. Wie wunderbar, wenn es uns trotzdem gelingt. Und hoffe, dass wir wenigstens den Versuch wagen. Bereit sind, uns in die Lebensfilme der anderen einzublenden. Wenigstens das. Mit ihren Augen sehen hilft sicher.

Bitte, nicht erst, wenn wir alt und krank sind.