Der Hirtenbrief von 1942 zeigt die klare Haltung der Kirchen

"Eine Zeit großer Not"

Welche Rolle hatte die katholische Kirche im Holocaust? Die niederländischen Hirtenbriefe und die grausamen Reaktionen des Reichskommissars Arthur Seyß-Inquart spielten eine Schlüsselrolle. Vor 75 Jahren wurde der Hirtenbrief in den niederländischen Kirchen verlesen.

Autor/in:
Franziska Broich
 (DR)

"Wir erleben eine Zeit großer Not, sowohl auf dem geistlichen wie auf dem materiellen Gebiet." Das war der erste Satz des Telegramms, das am 26. Juli 1942 in den niederländischen Kirchen verlesen wurde.

Der Hirtenbrief und seine Konsequenzen

Das Telegramm und der Hirtenbrief der katholischen Bischöfe aus dem gleichen Monat stehen symbolisch für den kontinuierlichen Protest der katholischen Kirche in den Niederlanden gegen das Nazi-Regime.

Die Konsequenz war die Ermordung Hunderter Katholiken mit jüdischer Herkunft. Einige Historiker argumentieren, dass Bischöfe in anderen europäischen Ländern sich daraufhin im Widerstand zurückhielten, um das Ausmaß der Grausamkeit nicht zu verschlimmern.

"Gleichschaltung der Niederlande"

Alles begann im Mai 1940, als Hitler das Land im Zuge der deutschen Westoffensive besetzen ließ. Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart sollte das Land "gleichschalten". Als fünf Monate später die Nürnberger Rassengesetze auch in den Niederlanden in Kraft treten sollten, legten die katholische und protestantische Kirche scharfen Protest ein. Es war der Beginn einer ökumenischen Zusammenarbeit.

Widerstand gegen die Judenverfolgung

Die Situation spitzte sich zu. Am 11. Juli 1942 schickten zehn verschiedene Kirchen ein Telegramm zur Abwehr der Judenvertreibung an die deutsche Besatzungsmacht. Ihre Forderung: Die Vertreibungsverordnung darf nicht durchgeführt werden.

Drei Tage später wurden in Amsterdam etwa 700 Juden bei Razzien verhaftet.

Der 26. Juli 1942

Eine zentrale Rolle im Widerstand der katholischen Kirche gegen das Nazi-Regime in den Niederlanden nahm Erzbischof Johannes de Jong ein. Der Professor für Kirchengeschichte sprach sich von Anfang an klar gegen die Judenverfolgung aus.

Zusammen mit vier weiteren Bischöfen verfasste er den Hirtenbrief. Eigentlich sollte ihn auch die evangelische Kirche unterschreiben, doch deren Vertreter konnten sich nicht darauf verständigen. Aus diesem Grund schrieb die Hervormde Synode der Evangelischen Kirchen ein Gebet, das am 26. Juli zusammen mit dem Hirtenbrief und dem Telegramm verlesen wurde.

"Not der Juden"

Bereits im ersten Absatz des Telegramms kommt die "Not der Juden" zur Sprache.

Die Kirchen zeigen ihre tiefe Erschütterung und beklagen das Leid der Zehntausenden sowie das Bewusstsein, dass die Verordnung gegen die Juden im Gegensatz zum „tiefsten sittlichen Empfinden“ des niederländischen Volkes stehe.

"Sind wir mitschuldig?"

Nur Gott allein könne die Not noch lindern, schreiben die Bischöfe in ihrem Hirtenbrief. "Alle menschlichen Mittel sind umsonst gewesen", heißt es. Schließlich stellen sie die Frage: "Sind wir denn selber nicht auch mitschuldig an den Katastrophen, die uns heimsuchen?"

Sie zitieren aus dem Evangelium und bitten um Frieden und für die, die im Ausland arbeiten müssen. "Er möge sie beschirmen an Leib und an Seele, sie bewahren vor Verbitterung und Mutlosigkeit, sie treu erhalten im Glauben, und Gott möge auch ihre zurückgebliebenen Angehörigen stärken", heißt es. Der Hirtenbrief endet mit einem Psalm: "Mögen die Ohren Deiner Barmherzigkeit offen stehen den Gebeten der Flehenden."

Ein Weckruf, mit schlimmen Konsequenzen

Den Bischöfen ging es mit dem Hirtenbrief darum, ein Zeichen zu setzen. Sie wollten Christen aller Konfession wachrütteln. Denn die Verbrechen gegen die Juden sollten Christen weder bejahen, noch dulden.

Die Reaktion der Besatzer war grausam. Am 2. August verhafteten sie 245 katholisch getaufte Juden und weitere Protestanten, die eine jüdisch-christliche Ehe führten. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde ins Vernichtungslager Westerbork gebracht, darunter auch die Karmeliterin Edith Stein, die jüdische Wurzeln hatte.

Erzbischof Johannes de Jong

Die niederländischen Hirtenbriefe werden von Historikern immer wieder genannt, wenn es um die Frage der Haltung von Papst Pius XII. gegenüber der Judenvernichtung geht. Fest steht, dass der Papst von dem Utrechter Erzbischof Johannes de Jong über die Ereignisse in den Niederlanden per Brief informiert wurde.

Haltung von Papst Pius XII

Einige Historiker argumentieren, dass die grausamen Konsequenzen des Hirtenbriefs der niederländischen Bischöfe ausschlaggebend für das Schweigen des Papstes gewesen seien, da er die Situation nicht verschlimmern wollte. Pius XII. ernannte de Jong 1950 zum Kardinal. De Jong hatte versucht, den Papst zu überzeugen, die Judenvernichtung unmissverständlich zu verurteilen.


Quelle:
KNA