domradio.de: Es gibt derzeit unglaublich viele Krisen, bei denen Menschen Hilfe benötigen. Kommen Sie da gerade an Ihre Grenzen?
Südhoff: Das ist eine sehr wichtige und sehr berechtigte Frage. Heute, am Tag der humanitären Hilfe, ist es sicherlich eine gute Gelegenheit, einmal kurz Luft zu holen und Bilanz zu ziehen. Wir hatten vor ein, zwei Jahren eine interne Diskussion, wie können wir es eigentlich schaffen, drei große Krisen gleichzeitig zu meistern? Wir sind zwar die größte humanitäre Organisation der Welt, aber das ist natürlich eine riesige Herausforderung, drei sogenannte Level-Drei-Krisen - das ist das höchste Level, was es gibt für eine humanitäre Katastrophe. Heute stellen wir fest, wir müssen uns mit fünf Krisen gleichzeitig auseinandersetzen, die alle dieses höchste Level haben. Einige davon sind bekannt: Syrien, der Irak, jetzt kommt in Westafrika die Ebola-Krise hinzu und andere Krisen sind gar nicht so auf dem Schirm, nämlich der Südsudan und die Zentralafrikanische Republik. Das heißt, wir stoßen tatsächlich an unsere Grenzen, auch weil natürlich die Geberregierungen und die Spender an ihre Grenzen stoßen.
domradio.de: In allen diesen fünf Krisenregionen sind Sie aktuell also im Einsatz. Was genau tun Sie dort?
Südhoff: Unser Hauptziel ist natürlich, Leben zu retten. Das ist unsere Hauptaufgabe und immer das Dringendste und die höchste Priorität. Das klingt so selbstverständlich, aber das hat ganz massive Auswirkungen. Wenn Sie so viele Krisen gleichzeitig haben - und den Gaza-Krieg hab ich noch gar nicht erwähnt, die Weltaufmerksamkeit und die politische Aufmerksamkeit ist gleichzeitig seit Monaten ganz stark auf der Ukraine - dann haben Sie tatsächlich ein ganz konkretes Problem. Sie müssen Ihre Mittel in jeder Hinsicht auf alle Krisenherde verteilen: was Ihre Öffentlichkeitsarbeit anbelangt, was die Nahrungsmittel vor Ort anbelangt, die Gelder, die Sie haben, um schnell reagieren zu können bei einer Krise, wie auch Ihr Personal. Wir rotieren buchstäblich in der Hinsicht, dass beispielsweise hier auch das kleine Berliner Büro Personal verleiht, dass unser Personal in diese Krisenherde reist, um die Kollegen vor Ort zu unterstützen. Es ist eine immense Herausforderung. Wir können nur appellieren, alle Hilfsorganisationen so gut es geht in diesen vielen, vielen Krisen zu unterstützen.
domradio.de: Jetzt geht es bei Ihnen natürlich hauptsächlich um das Thema Ernährung. Es geht um Essen. Sie bekämpfen den Hunger in der Welt. Das löst aber im Allgemeinen nicht die politisch tiefsitzenden Probleme. Was haben Sie denn für einen Einfluss auf diese Krisengebiete?
Südhoff: Das ist natürlich richtig. Unsere Hauptaufgabe ist, den Menschen zu helfen. Dabei ist es sogar sehr wichtig, dass wir uns politisch in keiner Weise einmischen, sondern unsere Neutralität wahren. Bei all den genannten Krisen handelt es sich durchweg auch um politische Konflikte, um interne Konflikte. Dort können Sie nur allen Betroffenen, allen Hungernden helfen, wenn Sie strikte Neutralität wahren. Gleichzeitig ist natürlich diese Hilfe und auch insbesondere die Hilfe zuvor, bevor diese Krisen ausbrechen, ganz entscheidend, um die Lage zu stabilisieren, um eine Situation zu schaffen, wo die Menschen an die Zukunft glauben. Eine Situation, in der es so wenig Gründe wie möglich gibt, sich um Ressourcen, um die Hilfe zum Überleben, um Land zu streiten. Deswegen müssen wir uns hier ganz massiv engagieren. Die gute Nachricht gleichzeitig ist, man kann heute besser denn je diese kurzfristige Hilfe mit Lösungsansätzen verbinden. Beispielsweise wenn man den Menschen nicht nur Nahrungsmittel für das tägliche Essen gibt, oder nicht nur, sondern das verbindet mit sogenannten "Food for Work-Programmen", Arbeitsprogrammen, wo die Menschen Nahrungsmittel bekommen und gleichzeitig ihre Felder wieder aufforsten. In dieser Zeit, in der sie gemeinsam vereinbarte Projekte umsetzen, Brunnen bauen, ihr Land wieder bestellen, und so nach den Krisen, nach den Kämpfen, die ja häufig auch diese Ressourcen zerstören, viel besser gerüstet sind als früher, auch wieder ein eigenständiges Leben zu beginnen.
Das Gespräch führte Verena Tröster.