epd: Herr Professor Weidner, alle großen Parteien machen in ihren Programmen zur Bundestagwahl Aussagen, wie künftig Probleme bei der Versorgung alter Menschen gelöst werden sollen. Ist das ein gutes Signal oder doch nur Schaufenster-Politik?
Weidner: Es wird in der Tat mehr über die Pflege gesprochen als in den Wahlkämpfen zuvor. Das erklärt sich aus der zunehmenden Dramatik rund um die pflegerische Versorgung. Aber die Pflege hat immer noch nicht den Stellenwert, den sie angesichts des demografischen Wandels haben müsste.
epd: Der CDU werfen Sie vor, ihr Versprechen, die Pflege umfassend zu reformieren, in den zurückliegenden vier Jahren nicht eingelöst zu haben. Jetzt stehen die alten Ziele erneut im Programm der Union. Wie seriös ist das?
Weidner: Das ist nicht nur unseriös, das ist ein Skandal. CDU und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag 2009 nicht nur eine umfassende Pflegereform versprochen, sondern auch, die Altenpflege attraktiver zu machen, die Pflegeausbildung zu reformieren und die Bürokratie zu bekämpfen. Von alledem ist so gut wie nichts umgesetzt worden.
epd: Die SPD will die Pflegeausbildung umbauen, eine bessere Bezahlung für das Personal erreichen und zusätzliche Pflegekräfte finanzieren. Ähnliche Forderungen finden sich auch bei den Grünen. Die Linke wirbt unter anderem für mehr Selbstbestimmung für Pflegebedürftige. Wie bewerten Sie diese einzelnen Reformideen?
Weidner: Immerhin gehen diese Vorschläge in die richtige Richtung: Man muss mehr Geld in die Hand nehmen. Es sind aber zunächst auch nur einzelne Versprechen. Ich vermisse ein schlüssiges Gesamtkonzept, in dem die Fachkräftesicherung, eine leistungsorientierte Vergütung, bessere Arbeitsbedingungen, eine Ausbildungsreform und die Finanzierung der Pflege überzeugend beschrieben sind.
epd: Wenn Sie für eine künftige Regierung ein "100-Tage-Programm" zu entwerfen hätten, welche Sofortmaßnahmen würden Sie vorgeben?
Weidner: Es müsste eine konzertierte Aktion erfolgen, um die Arbeitsbedingungen und die Vergütung der Fachkräfte schnell und spürbar zu verbessern. Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbände, der Gesetzgeber und die Kostenträger müssten eingebunden sein und ein verbindliches Programm zügig umsetzen. Dann sollte eine große Pflegereform angegangen werden. Die Konzepte dazu liegen ja seit Jahren auf dem Tisch. Ein dritter Schritt wäre der Startschuss für eine moderne und wettbewerbsfähige Pflegeausbildung, die jungen Leuten neue Perspektiven bietet.
epd: Zur Frage der Finanzierbarkeit finden sich in den Wahlprogrammen kaum konkrete Aussagen. Kann man überhaupt seriöse Aussagen erwarten, was "gute Pflege" kostet?
Weidner: Was die Gesamtausgaben für die Pflege anbelangt, gehört Deutschland im internationalen Vergleich eher zum Schlussfeld. Länder wie Schweden und Dänemark, aber auch die Niederlande geben laut OECD fast dreimal so viel aus. Das zeigt, dass wir in Deutschland eine viel zu verengte Sicht allein auf die Kosten der Pflege haben. In Skandinavien begreift man die Pflege auch als Wirtschaftsfaktor. Da verdient eine verantwortliche Pflegefachkraft gutes Geld, es gibt mehr Personal und dadurch bessere Arbeitsbedingungen und eine gute Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Im Grunde profitieren alle von einer besser bezahlten Pflege.
epd: Woher sollte aus Ihrer Sicht das Geld kommen?
Weidner: Da im Grunde alle von Pflegebedürftigkeit betroffen sein können, muss das Geld natürlich auch von allen kommen. Einerseits wird das nur über steigende Beiträge der Pflegeversicherung gelingen, andererseits auch über zusätzliche Steuermittel.
epd: Experten verweisen seit Jahren darauf, dass mit Blick auf die steigende Zahl Demenzkranker eine umfassende Neuausrichtung der Pflegeversicherung nötig ist. Warum kommt die Politik nicht voran?
Weidner: Dieses Versagen ist zuallererst der jetzigen Bundesregierung anzulasten. Erst hat Philipp Rösler (FDP) als Gesundheitsminister seine Hausaufgaben nicht gemacht. Dann hat Daniel Bahr (FDP) das Gesundheitsministerium übernommen und die Entwicklungen um die große Pflegereform verzögert. Bahr hat einen Beirat eingesetzt, der im Sommer 2013 die Vorschläge zur Neuausrichtung der Pflege voll bestätigt, die schon 2009 auf dem Tisch lagen.
epd: Wie interpretieren Sie dieses Verhalten?
Weidner: Der Grund für dieses Gebaren ist parteipolitisch motiviert. Die FDP hat Angst davor, dass man ihr die höheren Kosten einer grundlegenden Reform der Pflege anlastet und deshalb sitzt sie das zum Leidwesen vieler Pflegebedürftiger einfach aus.
epd: Millionen Bürger sind pflegebedürftig, werden meist versorgt von Familienangehörigen. Die Nöte der Betroffenen sind bekannt und oft Thema in den Medien. Trotzdem landet der Komplex «Gesundheit und Pflege» bei Umfragen hinter "Familie und Bildung" und "Arbeit und Löhne" nur auf Rang drei. Überrascht Sie das?
Weidner: Mich überrascht das nicht, weil ich die Dramatik seit Jahren kenne. Aber es ist bedenklich, dass keine der Parteien die Pflege als ein zentrales Wahlkampfthema ansieht. Dabei werden ganz offensichtlich die Sorgen und Nöte der Menschen missachtet.