Laut Volkskundler Alois Döring ist der Begriff "öffentliches Trauern" mit Vorsicht zu genießen. Denn einerseits lebe jeder Mensch seine Trauer anders aus, habe eigene Bedürfnisse und Rituale beim Gedenken an Verstorbene. Andererseits sei diese öffentliche Totengedenkzeit aber auch "historisch gewachsen", so der Autor des Buches "Rheinische Bräuche durch das Jahr".
Schon die Christen hätten im vierten Jahrhundert ein Fest zum Gedächtnis ihrer Märtyrer begangen. Papst Gregor IV. habe die Feierlichkeiten dann im Jahr 835 für die Gesamtkirche angeordnet und auf den 1. November gelegt. Grund für diese Terminwahl von Allerheiligen war laut Döring unter anderem "der starke Bezug zum Naturerleben: Pflanzen welken, alles in der Natur stirbt, die eigene Vergänglichkeit wird bewusster".
Ein Tag zum Konzentrieren auf Gedanken zum Tod
Die Konfrontation mit dem eigenen Tod ist allerdings an Allerseelen stärker. Dörings verweist darauf, dass Abt Odilo von Cluny im Jahr 998 den 2. November als Gedenktag für alle verstorbenen Gläubigen in seinen Klöstern ausrief. Die Verknüpfung von Allerheiligen und Allerseelen diene dann noch einmal der Stärkung des Todesbewusstseins. Martin Luther wollte diese Bräuche abschaffen. Gute Werke seien den lebenden Armen zu erweisen, nicht den Toten, forderte er. Doch das menschliche Verlangen, der verstorbenen Angehörigen zu gedenken, blieb. Und der protestantische Totensonntag wurde geboren - offiziell eingesetzt durch König Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1816.
Soweit die Historie. Kann aber dem aufgeklärten, modernen Menschen das Trauern heute öffentlich verordnet werden? Der Psychologe Eckhart Wunderle meint: Jein. "Heute ist es schon sinnvoll, einen Tag im Jahr zu haben, der Hinwendung bietet zum Tod." Aber man müsse sich auch auf diese Tage einlassen wollen. "Zwar wird mit Tagen wie Allerheiligen ein öffentliches Gedenken verordnet, aber der Tag kann auch als gute individuelle Möglichkeit zum Innehalten begriffen werden." Ein Tag also, zum Konzentrieren auf Gedanken zum Tod, zur Trauer um einen geliebten Menschen. Aber auch "auf Gedanken zur eigenen Vergänglichkeit", so Wunderle, der sich auf spirituelle Psychologie spezialisiert hat.
Rituale haben sich bewahrt
Wie kann eine Auseinandersetzung mit dem Tod praktisch aussehen? Wunderle gibt ein Beispiel. Man solle sich ein Telefonat mit einem lieben Menschen vorstellen. Und dann, dass dieser Mensch oder man selbst am nächsten Tag sterbe. "Was würde dieses Wissen in Ihnen auslösen?", fragt er und gibt auch die Antwort: "Es würde den ganzen Moment am Telefon wertvoller machen." Es gehe nicht darum, ängstlich an den eigenen Tod zu denken. "Nur wenn man sich einmal gewahr wird, dass das eigene Leben vergänglich ist, kann man sein Leben wirklich verändern." Fragen wie "Was fehlt mir?" und "Wie lebe ich mein Leben?" würden erst nach den Gedanken an den eigenen Tod gestellt.
Ob im November wirklich ein intensives Auseinandersetzen mit dem eigenen Tod stattfindet, können weder der Psychologe Wunderle noch der Volkskundler Döring beurteilen. Aber viele Rituale, wie etwa an Allerheiligen eine Kerze auf dem Grab anzuzünden, hätten sich durch die Zeiten bewahrt, so Döring. "Ich habe sogar den Eindruck, dass es jedes Jahr mehr Menschen werden, die dies tun."
Allerheiligen - historisch und psychologisch
Auf den Tod einlassen
Alle Jahre wieder: Zu Allerheiligen, Allerseelen, Buß- und Bettag, Totensonntag und Volkstrauertag gehen Menschen zu den Gräbern ihrer verstorbenen Angehörigen, zünden Kerzen an und legen Kränze nieder. Mit dem Herbst beginnt die Zeit des öffentlichen Trauerns um Verstorbene - so scheint es zumindest.
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