Wenige Minuten zuvor versagt Löwen mehrmals beinahe die Stimme, als er als Vertreter der Opfer und Hinterbliebenen zu den rund 250 Betroffenen und Gästen in Eschede (Kreis Celle) spricht. Löwen hat bei dem Unglück 3. Juni 1998 seine Frau Christl und seine Tochter Astrid verloren - bis heute ist er wütend auf die Bahn, die 101 Menschen «grob fahrlässig in den Tod gefahren» und bis heute «nicht um Verzeihung oder Entschuldigung» gebeten habe. Mit einem solchen Verhalten habe die Bahn «die Chance auf Aussöhnung» verschenkt.
Löwen ist auch noch sauer auf die Justiz, auf eine «harmlose und passive Staatsanwaltschaft» und auf ein «überfordertes Gericht». Dass im Prozess die Falschen auf der Anklagebank saßen und das Verfahren schließlich eingestellt wurden, habe das Vertrauen der Hinterbliebenen und Opfer in den Rechtsstaat «nicht gerade gestärkt», sagt Löwen. «Wenn ein Autofahrer mit abgefahrenen Reifen einen Unfall verursacht, wird er gnadenlos zur Rechenschaft gezogen», merkt der 63-Jährige an. Für den Staatskonzern Bahn hätten offenbar andere Regeln gegolten.
Am späten Vormittag hatten sich erste Hinterbliebene und Angehörige an der Gedenkstätte in Eschede eingefunden. Manche lehnen an oder sitzen unter einem der 101 Kirschbäume, von denen jeder für eines der Todesopfer steht; andere stehen mit gesenktem Kopf am Rande der Hochgeschwindigkeitsstrecke. Der zehnte Jahrestag reiße alte Wunden wieder auf, sagt der Überlebende Udo Bauch, der bei dem ICE-Unglück lebensgefährlich verletzt wurde. Er fühle sich «betroffen und sehr traurig», sobald er an den Ort der Katastrophe zurückkehre.
Bauch, der seit dem Unfall gehbehindert ist, geht die Bahn in scharfen Worten an. Es sei «beschämend», dass der Konzern nicht in der Lage sei, den Zugverkehr während der knapp einstündigen Gedenkfeier komplett umzuleiten oder anzuhalten. Mehrmals fuhren Güterzüge, Regionalzüge und auch mehrere ICE-Züge mit verminderter Geschwindigkeit auf der Strecke vorbei. «Das Geräusch fahrender Züge schneidet mir - gerade an dieser Stelle - noch immer die Kehle zu», sagt er. Die Bahn lasse wieder einmal den gebührenden Anstand vermissen.
Auch Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) rügt die Bahn. «Nach allem, was wir wissen, hätte man den Zug nicht auf die Reise schicken dürfen», sagt er. Das ICE-Unglück von Eschede mahne zu Wachsamkeit, Geistesgegenwart und Verantwortung im Umgang mit Technik. Wulff erinnert auch an die großen Leistungen der zahllosen Helfer vor zehn Jahren, die spontane Hilfsbereitschaft der Anwohner: «Mitten im Unglück wurden wir Zeugen dafür, zu welchen Leistungen Menschen inmitten einer Katastrophe fähig sind.»
Die Gedenkfeiern hatten um 10.59 Uhr mit einer Schweigeminute begonnen. Am 3. Juni vor zehn Jahren war zu dieser Uhrzeit der ICE 884 auf seiner Fahrt von München nach Hamburg gegen eine Betonbrücke geprallt. Eine Minute vorher war der Zug wegen eines gebrochenen Radreifens entgleist. Das Eschede-Unglück war der schwerste Bahnunfall in Europa und der schwerste Unfall eines Hochgeschwindigkeitszuges weltweit. Neben den 101 Todesopfern wurde ein Großteil der Fahrgäste schwer verletzt.
ICE-Unglück von Eschede jährt sich zum 10. Mal - Wut auf die Bahn
Unvergessener Albtraum
Stille legt sich über den Platz vor dem Mahnmal, als Heinrich Löwen beginnt. Langsam liest er am Dienstag abwechselnd mit einer anderen Hinterbliebenen die Namen der Toten vor, die das ICE-Unglück am 3. Juni vor zehn Jahren gefordert hat. 1998 sind 101 Leben, 101 Schicksale, an einer Betonbrücke in der Lüneburger Heide im ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" zerschellt. Es ist eine respektvolle Stille an diesem Tag der Erinnerung, keine bedrückende.
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